Ein Ort zum sterben
guten Preis verkauft, das Mietshaus in Soho erworben und das übrige Geld günstig angelegt. Das ist jetzt an die dreißig Jahre her. Es überrascht mich, daß Edith dir davon nichts erzählt hat.«
»Edith ist immer wieder für Überraschungen gut«, sagte Mallory. Damit war natürlich klar, weshalb Edith mindestens zwei der alten Damen vom Gramercy Square kannte.
»Inzwischen haben sie aber das Schloß bestimmt ein paarmal geändert, mit diesem Schlüssel ist also nichts mehr anzufangen. Tut mir leid.«
»Macht nichts. Nimm meinen.« Sie holte einen Schlüssel aus der Jackentasche.
»Am besten sagst du mir gar nicht, woher du den hast …«
»Du wirst Markowitz täglich ähnlicher, Charles. Ich habe ihn bei Gaynor mitgehen lassen, der wird ihn nicht vermissen. Er geht nie in den Park.«
»Hat Gaynor gemerkt, daß du ihn eingesteckt hast?«
»Wer ist die beste Diebin, die du kennst, Charles?«
»Du bist die einzige, die ich kenne.«
Als Edith sich in ihren Sessel zurücklehnte, allein im matten Licht des schwindenden Tages, sah sie vor sich das All ausgebreitet, sah die Sterne in galaktischen Wirbeln kreisen, sah, wie eins das andere in Bewegung setzte, wie scheinbar Zufälliges mit der Gesetzmäßigkeit von Tönen einer vertrauten Melodie dahinfloß. Sie sah vor sich die vollkommene Ordnung aller Dinge.
Dann dachte sie an Redwing. »Was halten Sie von ihr?« hatte Kathy gefragt, und Edith hatte zahlreiche Eigenschaften genannt, die ihr zu Redwing einfielen: Furchtlosigkeit, Arroganz, Charme, das Talent zur Täuschung, Belastbarkeit, totale Fremdheit und Unzugänglichkeit. Dabei hätte Kathy die Frau eigentlich am besten kennen müssen.
Sie hat sehr viel von Ihnen, Kathy.
Die alte Dame schloß die Augen und überließ sich Morpheus, dem Gott der Träume, und dem kleinen Tod, den die Menschen Schlaf nennen.
Stunden später ging sie ein wenig schwankend über die Diele in ihr Schlafzimmer. Sie war jetzt sehr müde. Als sie an der offenstehenden Küchentür vorbeikam, sah sie nicht einmal hin. Noch ehe sie, der aufdringlichen Botschaft an der Küchenwand den Rücken kehrend, die Schlafzimmertür geöffnet hatte, fielen ihr schon wieder die Augen zu.
Margot ließ sich zu Füßen eines der steinernen Löwen nieder, die den Eingang zur Bibliothek bewachten. Viele Stunden waren vergangen, seit sie aus der Bank geflüchtet war, sie spürte ihre Beine nach dem Sprint über das harte Straßenpflaster. Sie war nicht in Form. Wann war sie zum letzten Mal beim Training gewesen? Konnte man in wenigen Tagen so viel verlernen?
Dieser miese Bankertyp hatte wahrscheinlich die Cops angerufen und ihnen erzählt, sie hätte ihn mit einem Messer bedroht. So was zog bei Bullen immer. Was war, wenn sie in ihre Wohnung gingen und die Messersammlung dort fanden?
Quatsch, der Druck auf den Alarmknopf war eine Kurzschlußreaktion gewesen, wahrscheinlich hatte er gar nicht angerufen, es war zu riskant für ihn. Wenn sich herausstellte, daß sie wirklich die war, die sie zu sein behauptete, sah er nämlich ganz schön alt aus. Henry würde ihr raten können. Oder zumindest konnte er ihr ein bißchen was pumpen. Aber sie hatte nun bestimmt schon zehn-, zwölfmal bei ihm angerufen, und er hatte nicht abgenommen. Manchmal ließ er den Hörer tagelang neben dem Telefon liegen. Er war schon ein Blödmann, dieser einzige Freund, den sie besaß. Ihr Beichtvater. Und manchmal ihr Gott.
Sie würde am frühen Morgen zu ihrer Wohnung zurückgehen und ein Fenster einschlagen. Um diese Zeit, wenn es wirklich gefährlich wurde, mied die Polizei das Viertel. Sie griff sich wieder einen Pappbecher vom Gehsteig und ließ ihre letzten Münzen klingeln, bis sie das Fahrgeld für die U-Bahn zusammen hatte.
Sie fuhr kreuz und quer durch die Stadt, überlegte flüchtig, wie spät es wohl sein mochte, hatte aber jedes Zeitgefühl verloren. Sie schielte auf die Armbanduhr ihres Nachbarn. Zwanzig vor zehn … So lange schon? Ihrem Bauchgrimmen nach konnte das stimmen. Wann hatte sie das letzte Mal was in den Magen gekriegt? Sie sah den anderen Fahrgästen ins Gesicht, bis die vor ihrem glasig-übernächtigten Blick die Augen niederschlugen.
Vor Tagen hatte sie gedacht, sie würde die U-Bahn nie wieder nötig haben. Margot Siddon verfiel in den flachen Schlaf der routinierten U-Bahn-Fahrer.
Der Zug hielt, ein Fahrgast stieg ein. Mit einem Ruck wurde sie wach und hob den Kopf. Es war ein schreckliches Erwachen. Das war der Mann. Der gleiche Zug,
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