Ein Ort zum sterben
die gleiche Nachtzeit.
Er war nicht so groß und breitschultrig, wie sie ihn in Erinnerung hatte, aber das kam wohl daher, daß er in den vergangenen Jahren zu einem Mythos geworden war, der mit jedem Albtraum mehr Macht über sie gewann. Sie hatte vergessen, wie menschlich er war mit seinen Aknenarben und den großen feuchten braunen Augen. Ob auch das Messer in Wirklichkeit kleiner war als in ihrer Erinnerung? Das Messer, das vor ihren Augen getanzt und ihr Gesicht verwüstet hatte? Vielleicht war er gekommen, um sich die andere Seite vorzunehmen, um Symmetrie in das grimassenhafte Grinsen zu bringen.
Sie zog die Knie an und rollte sich zusammen. Ihre Nachbarn standen auf und gingen zum hinteren Wagenende, während sie das Gesicht an die Brust drückte und sich wimmernd hin und her wiegte. Ihr Blick irrte durch den Wagen. Wie allein sie war. Von aller Welt verlassen. Sieh zu, wie du zurechtkommst, signalisierte die neue Sitzordnung. Wieder fuhr der Zug in eine Station ein. Vielleicht schaffte sie es bis zur Tür, ehe er allzu viel Schaden anrichten konnte. Und dann? Würde er sie einholen, wieder an ihren Haaren zerren und sie büschelweise ausreißen? Auf dem Bahnsteig war bestimmt keine Polizei, beim ersten Mal war auch keine dagewesen.
Der Zug hielt. Sie stürzte zur Tür, schon war er hinter ihr, sie hämmerte mit der Faust auf das glatte Metall, bis die Tür aufging, stieg stolpernd aus und stieß mit einem Mann zusammen, der gerade einsteigen wollte. Der Mann mit dem tanzenden Messer sah flüchtig zu ihr hin und durch sie hindurch – und ging seiner Wege.
Wie war das möglich? Nach einem brutalen Überfall und einer Vergewaltigung war es doch kaum vorstellbar, daß er sich nicht an sie erinnerte.
Er ging die Treppe hoch, sie folgte ihm. Erinnerte er sich wirklich nicht? Auf der Seventh Avenue betrat er ein Bürogebäude, sie sah durch die Glastür, wie er dem Wachmann seinen Ausweis zeigte. Demnach arbeitete er in der Schicht von zehn bis sechs. Sie ging auf die andere Straßenseite, die voller Abfall war, und die Dunkelheit nahm sie auf. Sie hörte Ratten huschen und ließ sich ohne Angst in ihrer Mitte nieder.
Aus den Fenstern fiel warmes Licht, der Fernseher lief, und auf der Veranda dufteten die mehrmals blühenden Rosen. Sie fühlte sich lebhaft an das Markowitzhaus erinnert, ais es noch von Wärme und Leben erfüllt gewesen war. Noch ehe Mallory klingeln konnte, ging die Tür auf, und sie sah in Helens lächelnde Augen. Das mußte Brendas Mutter sein.
»Sergeant Mallory?«
»Ja.« Sie atmete auf, weil es nicht Helens Stimme war, und griff in die Tasche, um ihre Dienstmarke herauszuholen.
Mrs. Mancusi wartete nicht, bis sie sich ausgewiesen hatte. »Bitte kommen Sie doch herein.« Sie trat zur Seite. Die Tür war einladend geöffnet.
»Es tut mir leid, daß ich Sie so spät noch störe.« Mallory folgte Mrs. Mancusi in das große Wohnzimmer, das gemütlich mit schweren Möbeln und Sitzkissen eingerichtet war. Eine zusammengefaltete Zeitung lag neben dem Fernsehsessel. Der Abendessengeruch hatte sich noch nicht ganz verzogen. Eine halb fertige Halloween-Kürbismaske und ein Messer lagen auf dem Tisch, Kürbiskerne, Innereien und ein dreieckiges Stück Fruchtfleisch für das eine Auge waren aus der orangefarbenen Kugel bereits herausgeschnitten.
»Sie stören gar nicht, Sergeant. Brenda hat vorhin angerufen, weil sie ein bißchen spät dran ist, aber in ein paar Minuten müßte sie hier sein. Nur mein Mann kann leider nicht dazukommen, er hat Nachtdienst in der Klinik.« Sie räumte ein Strickzeug und Wolle vom Fernsehsessel. »Nehmen Sie den, Sergeant, der ist am bequemsten.« Mrs. Mancusi setzte sich ihr gegenüber auf die Couch. »Sie sind bestimmt müde nach dem langen Tag. Den Sessel kann man kippen. Legen Sie die Füße hoch. Sie könnten sicher eine kleine Stärkung vertragen. Wie wäre es mit Kaffee und einem schönen Stück Kuchen?«
»Nein, vielen Dank.« Auch wenn sie nicht Helens Stimme hatte,“ erinnerte sie in ihrer mütterlich-mitfühlenden Art, in ihrem festen Glauben an die Heilkraft von Kaffee und Kuchen sehr an Helen Markowitz. »Wir wollen Ihnen gern helfen, soweit wir können. Louis Markowitz war ein wunderbarer Mensch, ich habe geweint, als ich es erfuhr.«
»Kannten Sie ihn gut?«
»Erst seit einigen Monaten. Er kam alle vierzehn Tage zum Abendessen. Brenda kannte ihn natürlich schon länger. Daß sie wieder bei uns ist, haben wir ihm zu verdanken. Als sie
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