Ein perfekter Freund
Gerät.
Stolls helle Stimme ertönte. Er sprach schnell und aufgeregt und ließ Fabio nie seine bedächtigen Fragen zu Ende formulieren.
Sofort war wieder alles da: die Dreizimmerwohnung in einer Siedlung am Stadtrand; die zweijährige Tochter, die neben Stoll auf dem Sofa hockte und Biskuits vermanschte; seine Frau, die Hauswartin im Nebenamt, die in Jeans und einem über dem Bauchnabel verknoteten T-Shirt die Treppe naß aufwischte; die Posters von Willie Nelson, Jim Reeves, Stonewall Jackson und anderen Nashville-Sound-Country-Stars; die Lizard-Cowboystiefel an Stolls ausgestreckten, übereinandergeschlagenen Füßen.
Fabio versuchte, sich auf den Monolog von Erwin Stoll zu konzentrieren. Aber immer wieder kam ihm das Bild von Norina dazwischen, wie sie in diesem Meer von Flämmchen stand und andächtig eines nach dem anderen löschte.
Wenn Sarah nicht gesagt hätte: »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt angefangen hat«, wäre er nicht an den Drehort gegangen. Er hatte die Bemerkung als Aufmunterung verstanden, noch nicht aufzugeben. Aber worauf sie auch immer beruht haben mochte, an Norinas Verhalten war nichts davon zu entdecken gewesen. Er hatte sie noch nie so schön gesehen. Aber auch noch nie so kühl.
Fabio versuchte, sich Norina mit Lucas zusammen vorzustellen. Taten sie die gleichen Dinge, die sie getan hatten? Oder andere? Ausgefallenere? Tabulosere? Taten sie es öfter? War es für Norina schöner? War Lucas… war Lucas besser?
Fabio hatte Lucas in der Garderobe beim Training oft nackt gesehen. Er war vielleicht etwas zu drahtig, aber gut gebaut. Und er besaß, daran gab es leider nichts zu deuteln, einen ziemlich großen Schwanz. Nicht rekordverdächtig, aber größer als beim Rest der Mannschaft, Karl Wetter ausgenommen. Fabio Rossi eingeschlossen.
Er hatte nicht bemerkt, wann das Gespräch mit Erwin Stoll zu Ende war. Jetzt sprach eine andere Stimme. Ruhiger, tiefer, überlegter. Ein viel älterer Mann.
Die Stimme sagte: »Wenn man jung ist, sagt man viel. Ich kann das nicht so ernst nehmen. Was glauben Sie, was jemand durchmacht, bis er sich vor einen herannahenden Zug stellt? Und dann noch in der Feidauerkurve, wo er weiß, daß der Lokführer keine Chance hat.«
Fabio stoppte das Band und spulte es im Schnellauf zurück, bis sich die Höhe der Mäusestimmen veränderte. Er schaltete wieder auf Play und hörte seine eigene Stimme sagen: »Hans Gubler, vierzehnter Mai.«
Der Name sagte ihm nichts. Er war auch im Artikel nicht erwähnt. Wahrscheinlich hatte er Gubler nicht zitiert, weil seine Aussage nicht in sein Konzept paßte. Gubler war ein Lokführer kurz vor dem Ruhestand. Viermal in seinem Berufsleben hatten sich Selbstmörder vor seine Lok geworfen. Zwei Frauen, zwei Männer, er kannte ihre Namen, er hatte sogar mit den Angehörigen gesprochen. »Wenn Ihnen einer sagt, er hätte eine Wut auf die armen Teufel, dann ist das seine Art, damit fertig zu werden. Ich hatte nie eine Wut. Nur Mitleid.«
Hans Gublers letzter Selbstmörder lag knapp zwei Monate zurück: Dr. Andreas Barth, ein etwas über fünfzigjähriger Lebensmittelchemiker. Gubler hatte die Witwe besucht. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb er es getan hatte.
Jacqueline Barth war die Frau, die im Bericht mit einem Kurzinterview vertreten war. Von ihr stammte der lakonische Satz: »Sagen Sie ihm, es wäre mir auch lieber, er hätte es nicht getan.«
Auch ihr Gespräch hatte er auf Ba nd. Fabio konfrontierte sie darin mit der Wut des Lokführers auf den Selbstmörder, ohne deutlich zu machen, daß es sich dabei um Erwin Stolls Wut auf einen anderen Selbstmörder handelte. Das Gespräch dauerte über vierzig Minuten. Frau Barth war offenbar dankbar, mit jemandem über die Sache reden zu können. Sie gab zu, daß sie die Wut nachvollziehen könne. Sie selbst sei manchmal auch wütend. Wütend und verletzt. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne Erklärung. Eine Rücksichtslosigkeit, die ihm so gar nicht ähnlich sah.
Sie ließ auch ihre finanzielle Lage nicht unerwähnt. Die Lebensversicherung zahlte bei Selbstmord nicht. Sie saß mit einer Rente da, die sie dazu zwang, wieder zu arbeiten. Sie war gelernte Floristin. Kein Beruf, mit dem man sich ein solches Haus leisten konnte.
Im vollen Wortlaut klang der Schlußsatz, an dem Fabio das Kurzinterview aufgehängt hatte, überhaupt nicht sarkastisch.
»Bitte sagen Sie dem Lokführer, ich verstünde ihn gut und es tue mir leid. Mir wäre auch lieber, er hätte
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