Ein perfektes Leben
inzwischen mutiger gewordenen Sonne, die zu der sich nähernden Siesta einlud. Am Himmel waren einige wenige hohe, schmutzige Wolken zu sehen, die am Horizont dichter wurden. El Conde versuchte, an Josefinas Essen zu denken, an das Baseballspiel, das am Abend übertragen wurde, daran, dass es seiner Gesundheit schadete, wenn er so viele Zigaretten täglich rauchte. Er wollte die Mischung aus Nostalgie und Erregung, die ihn überkam, verscheuchen, während sich der Wagen Tamaras Haus näherte.
»Sag mal, hast du eine Auszeit genommen, Conde?«, fragte Manolo, als sie das Nationaltheater hinter sich gelassen hatten. »Was sagst du denn dazu?«
»Ich meine mehr oder weniger dasselbe wie du, deswegen hab ich nichts dazu gesagt. Ich glaube auch nicht, dass er sich versteckt hält oder versucht, das Land illegal zu verlassen, da bin ich mir ganz sicher«, sagte der Teniente und betrachtete wieder das Foto.
»Warum glaubst du das nicht? Wegen seines Postens, stimmts?«
»Ja, wegen seines Postens. Stell dir vor, er reist jedes Jahr fast zehnmal ins Ausland … Vor allem aber, weil ich ihn seit ungefähr zwanzig Jahren kenne.«
Manolo legte den falschen Gang ein und würgte dadurch beinahe den Motor ab. Er trat das Gaspedal voll durch und rettete so den Gang. Lächelnd sah er zu seinem Beifahrer hinüber. »Erzähl mir nicht, dass er ein Freund von dir ist!«
»Das hab ich nicht gesagt. Ich hab nur gesagt, dass ich ihn kenne.«
»Seit zwanzig Jahren?«
»Seit siebzehn, um genau zu sein. 1972 hab ich ihn zum ersten Mal vor der Oberstufe von La Víbora reden hören. Er war der Vorsitzende unserer Schülervertretung.«
»Und was noch?«
»Ach, ich will dich nicht beeinflussen, Manolo. Ehrlich gesagt, der Typ ist mir von Anfang an auf den Keks gegangen. Aber das soll jetzt keine Rolle spielen. Wichtig ist, er taucht schnellstens wieder auf, damit ich mich aufs Ohr hauen kann.«
»Meinst du, das spielt jetzt keine Rolle mehr?«
»Fahr schneller, es ist Grün«, sagte Mario, indem er auf die Ampel der Kreuzung Boyeros und Calzada del Cerro zeigte.
Er zündete sich die nächste Zigarette an, hustete ein paar Mal und legte das Foto von Rafael Morín in die Akte zurück. Die Erinnerung an den Tag, als Tamara ihnen ihre Heirat mit Rafael angekündigt hatte, stieg mit unerwarteter Heftigkeit in ihm auf. Er sah die drei weißen Streifen am Saum ihres Schulrocks wieder vor sich, die heruntergeroll ten Strümpfe und das zu einem symmetrischen Oval geschnittene Haar. Nachdem sie die Oberstufe beendet hatten, waren sie sich vielleicht vier- oder fünfmal begegnet, und bei dem bloßen Anblick dieser unwiderstehlichen, sinnlichen Frau war ihm jedes Mal heiß geworden.
Sie fuhren über die Calzada de Santa Catalina, doch El Conde nahm die Häuser, in denen einige seiner ehemaligen Schulkameraden wohnten, nicht wahr, weder die gepflegten Vorgärten noch die friedliche Stille jenes ewig friedlichen Viertels, wo er, zusammen mit dem Hasenzahn und dem Dünnen, auf so vielen Partys gewesen war. Er dachte an eine ganz besondere Party, an den fünfzehnten Geburtstag von Tamara und Aymara kurz nach Beginn der Oberstufe – am 2. November, präzisierte sein Gedächtnis –, daran, wie sehr ihn das Haus, in dem die Mädchen wohnten, beeindruckt hatte. Der Garten glich einem gepflegten englischen Park. Unzählige Tische standen unter den Bäumen, auf dem Rasen neben dem Springbrunnen, wo ein aus der Kolonialzeit geretteter Engel auf blühende Lilien pinkelte. Es gab sogar genug Platz für die »Gnomos«, die beste, bekannteste und teuerste Band von La Víbora. Genug Platz auch zum Tanzen für mehr als einhundert Paare. Und jedes Mädchen bekam eine Blume, es gab Tabletts voller Kroketten – mit Fleisch gefüllt –, Pasteten – ebenfalls mit Fleisch gefüllt – und Käsebällchen, Dinge, von denen man in jenen Tagen der ewigen Warteschlangen nicht mal zu träumen wagte. Die Eltern der Zwillinge, zu der Zeit Botschafter in London, vorher in Brüssel und Prag und später in Madrid, verstanden es, Partys zu geben, und der Dünne, der Hasenzahn, Andrés und er selbst versicherten heute noch, sie hätten nie eine bessere Party erlebt. Sogar eine Flasche Rum auf jedem Tisch! »Sieht aus wie ’ne Party draußen«, urteilte der Hasenzahn, und alle anderen sahen das genauso. Später kam ihm in den Sinn, dass eine so riesige Party wohl sogar dem Großen Gatsby gefallen hätte. Rafael Morín, der große Verführer, tanzte den ganzen Abend mit
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