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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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voreingenommen.«
    »Und was hat Alberto dir erzählt?«
    Er beobachtet die Flora von Portocarrero, die eine ganze Wand beherrscht. An der Unterseite liest er: »Für dich, Valdemira, von Deinem Freund René.« Ihm gefallen am besten die Blautöne, die der Künstler für das Haar dieser Flora verwendet hat. Sie wirkt dadurch kühler, aber auch lebendiger, und er stellt fest, dass sie wie alle Floras mit vertrauensvollen Kuhaugen in die Welt blickt.
    »Nichts Neues, wirklich nicht. Im Moment versuchen wir, diese Zoilita ausfindig zu machen, aber sie bleibt verschwunden. Und morgen beginnen wir mit den Ermittlungen im Unternehmen. Vielleicht kommt dabei ja irgendwas raus.«
    »Was möchtest du gerne herausfinden, Mario?« Sie schlägt die Beine übereinander und sieht ihn forschend an, so als wäre er ein seltsames Wesen, das sie noch nie gesehen hat. Er dagegen hat nur Augen für ihre Beine und das Kleid, ein überlanges T-Shirt, das den Ansatz ihrer Schenkel sehen lässt.
    »Warum bist du damals bei dem Baseballspiel abgehauen?«
    »Was?« Sie ist überrascht.
    »Nichts, nichts. Ich will deinen Mann aufspüren und herausfinden, warum er verschwunden ist. Und ich will herausfinden, wie du dich fühlst.«
    Sie bringt die freche Haarsträhne für einen Moment unter Kontrolle und legt ihren Kopf auf die Rückenlehne des Sessels. »Völlig durcheinander. Ich habe viel nachgedacht«, sagt sie und steht auf. Er sieht sie zum Bücherschrank gehen, und erst jetzt, da er sie so anschaut, kommen ihm wieder seine Onanie-Fantasien von gestern Nacht in den Sinn. Er schämt sich beinahe, dass ihm diese Frau so sehr gefällt. Sie kommt mit einer Flasche Ballantine’s und zwei Gläsern zurück, zieht ein kleines Tischchen heran und gießt viel bernsteinfarbene Flüssigkeit in die beiden Gläser. Der unverwechselbare Geruch nach Eichenholz steigt Mario in die Nase.
    »Wovor hast du Angst, Tamara?«
    »Angst?«, fragt sie mehr sich selbst und schaut wieder ihren Besucher an. »Vor nichts, Mario. Und du?«
    Er spürt die trockene Wärme des Whiskys auf der Zunge und denkt, dass er das Jackett ablegen müsste.
    »Vor allem. Ja, vor allem. Dass Rafael tot ist oder dass er es nicht ist und wieder auftaucht und alles so weitergeht wie bisher. Dass die Jahre verstreichen und ich und meine Träume auf der Strecke bleiben. Dass der Dünne stirbt und ich dann alleine bin und noch größere Schuldgefühle kriege. Dass die Zigaretten mich umbringen. Dass ich meine Arbeit nicht gut mache. Und vor der Einsamkeit, große Angst vor der Einsamkeit … Und dass ich mich in dich verliebe, wo du doch Rafaels Frau bist und in dieser so perfekten und so sauberen Welt lebst und mir schon immer gefallen hast.« Er sieht die unschuldige und unnahbare Flora an und spürt, dass er nicht mehr aufhören kann zu sprechen.
     
    An dem Tag, als sich sein Leben veränderte, fragte sich Mario Conde, wie die Schicksale der Menschen entstehen. Vor kurzem hatte er den Roman Die Brücke von San Luis Rey von Thornton Wilder gelesen. Er sagte sich, dass auch er eine von jenen fünf Personen hätte gewesen sein können, die das Schicksal über die Hängebrücke in Peru geführt hatte, wo ihnen die Knochen in einem bestimmten Augenblick von Millionen von bestimmten Augenblicken mit einem letzten Seufzer gebrochen wurden, als sie in den Abgrund stürzten. Ihn faszinierte das Bild von den fünf Reisenden, die höher fliegen als die Kondore, und auch die streng kriminalistische Untersuchung einer anderen Person, die nach den Gründen für das zufällige Zusammentreffen jener Männer und Frauen forscht, die sich niemals zuvor je begegnet waren und nun auf der Brücke von San Luis Rey den Tod fanden. Mario Conde war ins Sekretariat der Psychologischen Fakultät gegangen und hatte sich vom Studium abgemeldet, ohne sich bereits Gedanken über die Rolle des Schicksals zu machen. Daraufhin ließ ihn die Vizedekanin zu sich kommen, um ihn zu fragen, ob er wirklich das Studium aufgeben wolle, und er sagte, ja, es müsse sein. Sie bat ihn, einen Moment im Büro zu warten, und ging hinaus. Nach einer Viertelstunde kam ein Mann herein, der sich als Capitán Rafael Acosta vorstellte und ihn fragte, was ist dein Problem, mein Junge. Mario konnte sich nicht erklären, warum man ihn verhörte. Mein Problem ist finanzieller Natur, Genosse, antwortete er, ich muss Geld verdienen. Und warum gibst du dir keinen Ruck, fragte ihn der Capitán. Das verstand er noch weniger. Ich muss Geld verdienen,

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