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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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niemand zu nähern wagte, hätte aufhalten können, wenn er in Uniform gewesen wäre. Doch als er die Zigarette auf den Boden warf und schrie: »Bleib stehen, verdammt, bleib stehen, ich bin Polizist!«, änderte der Mann die Laufrichtung, hob das Messer hoch über seinen Kopf und richtete seinen Hass nun auf den, der sich ihm in den Weg stellte und ihn anschrie. Seltsamerweise erinnerte sich Mario immer in der dritten Person an diese Szene, sozusagen von außen. Er sah, wie der schreiende Mann zwei Schritte zurückwich, mit der Hand an den Gürtel fasste und ohne ein weiteres Wort auf den Mann schoss, der in einer Entfernung von weniger als einem Meter vor ihm stand und ihn mit dem Messer bedrohte. Er sah ihn nach hinten fallen und sich um sich selbst drehen, so als wäre es einstudiert; das Messer fiel ihm aus der Hand, und dann lag er auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerzen. Die Kugel traf den Mann an der Schulter und ließ sein Schlüsselbein nur ganz leicht splittern. Jenes einzige Mal, als Mario Conde auf einen Menschen geschos sen hatte, endete mit einer harmlosen Operation und einem Prozess, in dem er als Zeuge gegen den Messerstecher aussagte, dessen Wunde schon längst verheilt war und der seine unter Alkoholeinfluss begangene Tat bereute. Doch El Conde lebte noch Monate später in dem Zweifel, ob er auf die Schulter oder die Brust des Mannes gezielt hatte. Und er schwor sich, die Pistole nur noch auf dem Schießstand zu benutzen, auch auf die Gefahr hin, dass er sich mit bloßen Händen mit einem Messerstecher herumprügeln müsste. René Maciques jedoch hätte ihn dazu bringen können, seinen feierlichen Schwur zu brechen. Bei meiner Mutter, ja!
     
    »Wir fahren in die Zentrale, Don Alfonso«, sagte er und kurbelte das Seitenfenster hoch. Der Fahrer sah ihn an und wusste, dass er besser nicht fragte.
    Patricia Wong und ihr Team in einem Meer von Gehaltslisten, Verträgen – Kauf, Transport, Verkauf – Dienstanweisungen, Memoranden, Randbemerkungen, gegengezeichneten Schecks und Protokollen von Vereinbarungen und Unstimmigkeiten, und alles besagte: in Ordnung, einwandfrei, überaus korrekt. Und Zaida in einem anderen Meer, in Tränen aufgelöst, ja, ihr Verhältnis zu Rafael sei nicht nur das einer Sekretärin zu ihrem Chef, es gehe über die Arbeit im Unternehmen hinaus, das sei aber doch kein Verbrechen, nicht wahr, denn Rafael habe sie niemals bedrängt, habe sich nie in diesem Sinne geäußert, nie, nie. Und sie schwor, dass Rafael sie am Dreißigsten nach Hause gebracht und sie ihn danach nicht mehr gesehen habe. Manolo übte Druck auf sie aus, sie weinte: Alfredito, mein Junge, mochte ihn so sehr, und er ist ausgestiegen und mit reingekommen, um ihm alles Gute zum neuen Jahr zu wünschen. Und Maciques wusste nicht über alles Bescheid, er war nur der Büroleiter. Da müssen Sie mit dem stellvertretenden Direktor reden, der ist aber in Kanada und kommt erst am Zehnten wieder. Und noch einmal: Er glaube das alles nicht. Und der Alte, der die Asche seiner Davidoff betrachtete, würde mit seinem Schwiegersohn reden müssen, das geht nicht mehr so weiter, er nimmt den Kleinen mit und kommt erst um halb zwölf nachts nach Hause, mit einer Fahne, das Theater treibt meinen Blutdruck in die Höhe, aber von dir erwarte ich, dass du den Fall so schnell wie möglich löst, und zwar noch heute, Mario, in drei Tagen kommen Käufer aus Japan, die ein wichtiges Geschäft mit Rafael Morín abschließen wollen, Erwerb von Zuckerrohrprodukten, es geht um Millionen von Dollars, Morín hat schon verschiedentlich mit denen zusammengearbeitet, und der Minister will noch heute eine Antwort haben. Und er fragte ihn: Mario, brauchst du Hilfe? Zwei Tage waren nun schon vergangen, und er stand mit leeren Händen da.
    El Conde hob den Blick und sah den kalten, klaren Montag, den 5. Januar, und er sagte sich, dass in der Nacht die ideale Temperatur herrschen würde, um bis Mitternacht wach zu bleiben und dann drei Bündel Heu und drei Schälchen mit honiggesüßter Milch für die Kamele unters Bett zu stellen und daneben einen Brief an Kaspar, Melchior und Balthasar zu legen … als das Telefon klingelte und er gezwungenermaßen aufhören musste, an den Brief für die Heiligen Drei Könige zu denken.
    »Ja?«, fragt er und setzt sich mit halbem Hintern auf den Schreibtisch, den Blick auf die Kronen der Lorbeerbäume gerichtet.
    »Mario? Ich bins, Tamara.«
    »Ach, du bists. Wie geht es dir?«
    »Gestern hab ich den

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