Ein plötzlicher Todesfall
Toleranz. Mary war in seiner Achtung unwiederbringlich ins Bodenlose gesunken.
IX
»Und wo willst du hin?«, fragte Simon. Er baute sich zu seiner ganzen GröÃe mitten im Flur auf.
Die Haustür hinter ihm stand offen, und durch das Glas ergoss sich an diesem Samstagmorgen blendendes Sonnenlicht, in dem Simon nur als Silhouette zu erkennen war. Sein Schatten zeichnete sich wellenförmig auf der Treppe ab und reichte gerade an die Stufe heran, auf der Andrew stand.
»In die Stadt, mit Fats.«
»Hausaufgaben schon fertig?«
»Aber ja.«
Das war gelogen, doch Simon würde sich nicht die Mühe machen, sie zu kontrollieren.
»Ruth? Ruth! «
Mit erhitztem Gesicht erschien sie an der Küchentür und wischte sich die mit Mehl bestäubten Hände an der Schürze ab.
»Was ist?«
»Brauchen wir was aus der Stadt?«
»Wie? Nein, ich glaube nicht.«
»Willst wohl mein Fahrrad nehmen, ja?«, knurrte Simon.
»Ich wollte â¦Â«
»Lässt du es bei Fats?«
»Ja.«
»Wann soll er zurück sein?«, fragte Simon und wandte sich wieder an Ruth.
»Oh, ich weià nicht, Si«, sagte Ruth ungeduldig. Am meisten ärgerte sie sich über ihren Mann, wenn er, im Grunde zwar gut gelaunt, aus Spaà an der Freude anfing, Vorschriften zu machen. Andrew und Fats fuhren oft zusammen in die Stadt, und es galt als abgemacht, dass Andrew zurückkehrte, bevor es dunkel wurde.
»Dann um fünf«, legte Simon aufs Geratewohl fest. »Eine Minute später, und du kriegst Hausarrest.«
»In Ordnung«, erwiderte Andrew.
Seine rechte Hand steckte in der Jackentasche und umklammerte ein fest zusammengefaltetes Papier, das ihm wie eine tickende Zeitbombe vorkam. Die Angst davor, dieses Stück Papier zu verlieren, auf dem ein säuberlich notierter Code stand sowie ein paar Reihen durchgestrichener, verbesserter und arg zusammengekürzter Sätze, hatte ihn seit einer Woche geplagt. Er hatte es die ganze Zeit am Körper getragen und nachts im Kopfkissenbezug versteckt.
Simon machte kaum Platz, so dass Andrew sich an ihm vorbeizwängen musste, das Papier fest in der Hand. Er hatte höllische Angst, Simon könnte ihn auffordern, die Taschen zu leeren, und nach Zigaretten suchen.
»Bis dann.«
Simon antwortete nicht. Andrew ging in die Garage, wo er das Papier herausnahm, auseinanderfaltete und durchlas. Er wusste, dass er albern war und die bloÃe Nähe zu Simon die Schrift nicht auf magische Weise hatte löschen können, trotzdem wollte er auf Nummer sicher gehen. Erleichtert, dass alles in Ordnung war, faltete er es wieder zusammen, steckte es noch tiefer in die Tasche, die er mit einem Knopf verschloss, dann schob er das Rennrad aus der Garage und den Pfad hinunter durch das Tor auf die StraÃe. Er spürte, dass sein Vater ihn durch die Glastür beobachtete, in der Hoffnung, da war sich Andrew sicher, dass sein Sohn vom Fahrrad fallen oder es irgendwie schlecht behandeln würde.
Pagford lag unter einem leichten, von der noch kraftlosen Frühlingssonne durchdrungenen Dunstschleier. Die Luft roch frisch und intensiv. Andrew wusste, von welchem Punkt an Simons Blick ihm nicht mehr folgen konnte. Ihm war, als fiele ihm eine Last von seinen Schultern.
Er raste den Hügel hinab, ohne zu bremsen, und bog dann in die Church Row ein. Etwa auf halber Strecke wurde er langsamer, fuhr manierlich in die Auffahrt der Walls und achtete darauf, nicht an Pingels Wagen zu stoÃen.
»Hallo, Andy«, begrüÃte Tessa ihn, als sie ihm die Haustür öffnete.
»Hi, Mrs Wall.«
Andrew akzeptierte die landläufige Meinung, dass Fatsâ Eltern ein Witz waren. Tessa war plump und unscheinbar, ihre Frisur eigenartig, ihre Kleidung peinlich, während Pingel ulkig und steif war. Dennoch vermutete Andrew, dass er die Walls mögen würde, wenn sie seine Eltern wären. Sie konnten so zivilisiert, so liebenswürdig sein. In ihrem Haus hatte man nie das Gefühl, dass sich plötzlich der Boden auftun und man ins Chaos stürzen könnte.
Fats saà auf der unteren Treppenstufe und zog seine Turnschuhe an. Aus der Brusttasche seiner Jacke lugte deutlich sichtbar ein Päckchen Tabak hervor.
»Arf.«
»Fats.«
»Möchtest du das Fahrrad deines Vaters in der Garage abstellen, Andy?«
»Danke, Mrs Wall.«
(Sie sagte immer »dein Vater«, nie »dein Dad«,
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