Ein plötzlicher Todesfall
Anne-Marie, die (wie Tante Cheryl ihr erzählt hatte) am Donnerstag Nana Cath besucht hatte. Hätte sie doch nur die Schule geschwänzt und wäre zur selben Zeit dort gewesen, dann hätten sie sich endlich kennengelernt. So oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie Anne-Marie begegnen und zu ihr sagen würde: »Ich bin deine Schwester.« In diesen Tagträumen war Anne-Marie immer hocherfreut, und sie trafen sich danach regelmäÃig, bis Anne-Marie am Ende vorschlug, Krystal solle doch zu ihr ziehen. Die Anne-Marie in Krystals Phantasie hatte ein Haus wie Nana Cath, sauber und ordentlich, nur war es viel moderner. In letzter Zeit hatte Krystal noch ein süÃes Baby in einer Rüschenwiege hinzugefügt.
»Hier«, sagte Fats und reichte Krystal den Joint. Sie zog daran, behielt den Rauch ein paar Sekunden in der Lunge, und ihr Gesichtsausdruck glitt ins Verträumte ab, während das Gras seinen Zauber ausübte.
»Hast du Bruder oder Schwester?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete Fats. Er suchte in der Tasche nach den Kondomen, die er gekauft hatte.
Krystal gab ihm den Joint zurück, ein angenehm benommenes Gefühl im Kopf. Fats nahm einen tiefen Zug und blies Rauchringe aus.
»Ich bin adoptiert«, sagte er nach einer Weile.
Krystal glotzte Fats mit groÃen Augen an.
»Du bist was?«
Wenn die Sinne ein wenig gedämpft und abgepolstert waren, gingen Geständnisse leichter von den Lippen, alles wurde einfach.
»Meine Schwester ist adoptiert worden«, sagte Krystal und staunte über den Zufall, hocherfreut, über Anne-Marie reden zu können.
»Wahrscheinlich komme ich aus so einer Familie wie du«, sagte Fats.
Aber Krystal hörte nicht zu, sie wollte reden.
»Hab âne ältere Schwester und ânen älteren Bruder, Liam, aber die sind weggenommen worden, da war ich noch nicht da.«
»Wieso?«, fragte Fats.
Plötzlich war er ganz Ohr.
»Da war Mum noch mit Ritchie Adams zusammen«, erzählte Krystal. Sie zog einmal tief am Joint und blies den Rauch in einer langen Wolke aus. »ân echter Psycho. Sitzt lebenslänglich. Hat ânen Typen umgebracht. Voll gewalttätig zu Mum und den Kiddies, und dann kamen John und Sue und haben sie mitgenommen, und das Sozialamt wurde eingeschaltet, und am Ende haben John und Sue die behalten.«
Sie zog noch einmal am Joint und dachte über diesen Teil ihres Vorlebens nach, der in Blut, Wut und Finsternis getaucht war. Sie hatte vor allem von ihrer Tante Cheryl etwas über Ritchie Adams erfahren. Er hatte auf den Armen der einjährigen Anne-Marie Zigaretten ausgedrückt und die Kleine getreten, bis ihre Rippen brachen. Er hatte Terris Gesicht verschandelt, ihr linker Wangenknochen war im Vergleich zum rechten noch immer eingedellt. Terris Drogenabhängigkeit hatte sich rasant gesteigert. Tante Cheryl stand der Entscheidung, die beiden misshandelten, vernachlässigten Kinder den Eltern wegzunehmen, nüchtern gegenüber.
»Musste so kommen«, sagte Cheryl.
John und Sue waren entfernte, kinderlose Verwandte. Krystal hatte nie erfahren, wo oder wie sie in ihren komplizierten Stammbaum passten oder wie sie die Kindesentführung zustande gebracht hatten, wie Terri es nannte. Nach viel Gerangel mit den Behörden hatte man ihnen erlaubt, die Kinder zu adoptieren. Terri, die bei Ritchie geblieben war, bis er verhaftet wurde, sah Anne-Marie und Liam nie wieder aus Gründen, die Krystal nicht ganz verstand. Die ganze Geschichte triefte vor eitrigen Hassgeschwüren und unverzeihlichen Dingen, die ausgesprochen und angedroht wurden, einstweiligen Verfügungen und jeder Menge zusätzlicher Sozialarbeiter.
»Wer ist dann dein Vater?«, fragte Fats.
»Banger«, sagte Krystal. Sie hatte Mühe, sich an seinen richtigen Namen zu erinnern. »Barry«, murmelte sie, war sich jedoch nicht sicher, ob das richtig war. »Barry Coates. Bloà benutz ich Mums Namen, Weedon.«
Die Erinnerung an den toten jungen Mann, der sich in Terris Badezimmer eine Ãberdosis gespritzt hatte, trieb durch den süÃlichen, schweren Rauch zu ihr zurück. Sie gab Fats den Joint zurück, lehnte ihren Kopf an die Mauer und schaute zu dem Streifen Himmel auf, der mit dunklen Blättern gesprenkelt war.
Fats dachte an Ritchie Adams, der einen Mann umgebracht hatte, und erwog die Möglichkeit, dass sein leiblicher Vater auch irgendwo im
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