Ein Pony mit Herz
in diese Freude auch Angst. In wenigen Tagen begannen die Ferien, und sie sollte zum Weihnachtsfest nach Amerika fliegen. Der Flug war gebucht und alles besprochen. So kurz vorher noch einen Brief zu bekommen, das war ein schlechtes Zeichen.
Diese Angst war auch der Grund dafür, daß Mini den Brief schnell in ihrer Hosentasche verschwinden ließ, um ihn später in aller Ruhe zu lesen. Sie wartete bis nach dem Abendessen. Als alle sich in ihre Zimmer oder einen der Gemeinschaftsräume zurückgezogen hatten und auch in den Ställen Ruhe eingekehrt war, lief sie zum Schulstall hinüber, schlich sich in die Box ihres Lieblings Luzifer und öffnete mit zitternden Fingern den Umschlag.
Minis böse Vorahnungen bestätigten sich. Ihre Mutter schrieb, der Vater habe einen Unfall gehabt und sei operiert worden. Inzwischen war er zum Glück wieder gesund und hatte auch das Training wieder aufnehmen können. Doch der Zirkus hatte weiterziehen und Ersatz für Minis Eltern einstellen müssen. Die waren viele Wochen arbeitslos gewesen. Zwar hatten sie ab Neujahr im Disney-Park in Orlando in Florida einen neuen Job gefunden, aber an ein paar freie Tage für einen Weihnachtsurlaub mit Mini war unter diesen Umständen nicht zu denken, und auch die Kosten für den Flug konnten sie nicht aufbringen. Der war bereits storniert. Nächstes Jahr, schrieb die Mutter, werden wir ab Sommer wieder bei unserem Zirkus sein. Dann wird alles besser werden, und wir hoffen, daß Du dann die ganzen Ferien bei uns verbringen kannst.
Nächsten Sommer! Bis dahin war es noch eine Ewigkeit! Und wer weiß, vielleicht war die Verletzung des Vaters doch ernster gewesen, und er würde nie wieder so auf dem Hochseil arbeiten können wie früher! Vielleicht war der Ersatzmann viel jünger als der Vater, unverbraucht und kräftig, und der Zirkusdirektor entschloß sich, ihn zu behalten!
Mini war es, als habe man sie in ein tiefes Loch gestürzt. Sie vergrub ihr Gesicht am Hals des riesigen Rappwallachs und schluchzte hemmungslos. Warum waren ihre Eltern so weit weg! Warum konnte sie der Mutter nicht einfach um den Hals fallen und sich bei ihr ausweinen! Und warum verheimlichten sie ihr schlimme Nachrichten immer so lange, bis alles vorüber war? Wie gern hätte sie den Vater im Krankenhaus besucht, wie gern der Mutter in dieser Zeit geholfen! Aber die Eltern hielten sie hier wie auf einer Insel, unberührt von der Außenwelt, ahnungslos von ihren Sorgen und Nöten!
Nein! Sie würde das nicht länger mitmachen! Sie würde sich zu den Eltern durchschlagen und sich eine Arbeit in ihrer Nähe suchen und nie wieder von ihnen fortgehen! In Orlando, auf dem riesigen Disney-Gelände, würde sich sicher ein Job für sie finden. Vielleicht als Micky Mouse oder einer seiner Gefährten, versteckt in einem Mäusekostüm, oder als Pferdepflegerin. Zur Not würde sie auch in einem der Hotels oder Imbißstuben Geschirr abwaschen. Hauptsache, sie war nicht länger von den Eltern getrennt!
„Du verstehst mich, Luzifer, nicht? Du verzeihst mir, wenn ich dich jetzt verlassen muß und wir beim Weihnachtsreiten nicht unsere Show zeigen können. Ich weiß, du hast es gut hier und wirst mich nicht vermissen“, flüsterte Mini und umarmte den Wallach zum Abschied zärtlich. „Danke, daß du so ein guter Freund gewesen bist. Mein allerbester! Ich wünsch dir ganz viel Glück!“
Mini streichelte dem Wallach noch einmal liebevoll über die Nase, dann verließ sie leise den Stall. Jetzt kam alles darauf an, daß sie ungesehen aus dem Internat verschwinden konnte.
Zum Glück hielten sich ihre Zimmergenossinnen noch im Musikzimmer auf, wo sie für das Weihnachtskonzert probten, das am letzten Schultag auf die Ferien und die kommenden Festtage einstimmen sollte. Mini konnte ungesehen ein paar Kleidungsstücke und was sie sonst für die Reise brauchte in ihren Rucksack stopfen. Mini überlegte, wie und wann sie das Haus am besten verlassen sollte. Zum Aufenthaltsraum der Jungen konnte sie nicht Vordringen, die Zwischentür war versperrt. Der nächtliche Weg über den Baum fiel also aus. Mini öffnete das Fenster und überlegte. Die Schlafzimmer der Mädchen lagen im Obergeschoß. Trotzdem — als Artistenkind war es für sie kein Problem, sich von hier aus bis auf den Boden abzuseilen. Aber wo bekam sie ein Seil her, das so weit hinunter reichte? Es würde tagelanger Vorbereitungen bedürfen, sich so etwas zu knüpfen, gleich, ob sie sich nun Longierleinen oder Bettlaken dafür
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