Ein Regenschirm furr diesen Tag
will nur noch die inneren Erwärmungen mitmachen, die die Freude jetzt in mir entfacht. Ich stecke das Geld weg und lehne mich gegen das Eisengeländer hinter mir. Ich schaue auf die Abfälle und frage mich, wie der Bauschutt und das Geröll hierhergekommen sind. Sonderbar ist, daß ich schon anfange, die zufällige Umgebung als Bleibe anzunehmen. Hoffentlich bedeutet mein innerer Eifer nicht, daß ich mir schon eine Karriere als Flohmarkt-Händler anphantasiere. Die Art und Weise, wie ich mich schon nach kurzer Zeit in der Nähe jedes Mörtelhaufens wohl fühle, ist vermutlich aus der Nachkriegszeit übriggeblieben. Damals war ich ein Kind, das zwischen den Trümmern des Krieges umherging und sich in jeder Ruine fragte, ob man hierbleiben könne. Der Krieg war erst seit kurzem zu Ende, aber durch den Anblick der Zerstörungen war ich sicher, daß ein neuer Krieg jederzeit losbrechen könnte und die Menschen zwingen würde, sich in jedem Staubloch einzurichten. Nein, ich werde doch nicht gleich nach Hause gehen. Vorher werde ich das Café Rosalia aufsuchen, in dem ich schon lange nicht mehr gewesen bin. Dort werde ich ein den Geschäften des Tages angemessenes Mittagsmahl zu mir nehmen und mich weiter meiner Freude hingeben. Mit vier oder fünf Handgriffen ist der Tapeziertisch zusammengelegt, die nicht verkauften Schuhe verschwinden in zwei Plastiktüten. Das Café Rosalia habe ich früher mit Lisa oft aufgesucht, hoffentlich ist es noch da. Es ist gar kein richtiges Café, sondern nur eine größere, inzwischen total altmodisch gewordene Bäckerei mit zwei kleinen Gasträumen, die man durch einen schmalen Korridor von der Bäckerei aus erreicht. Unterwegs komme ich an einem Kurzwarengeschäft vorbei, in dessen Schaufenster ein wunderbares Sonderangebot ausgestellt ist. In einer Schachtel liegen zahllose schwarze und weiße Nähgarnrollen, das Stück für eine Mark. Ein ganz und gar einmaliges Bild! Wenn Lisa jetzt da wäre, würde sie den Laden betreten und je eine weiße und eine schwarze Nähgarnrolle kaufen und sie zu Hause auf einem Regal nebeneinander aufstellen und sie von Zeit zu Zeit verliebt anschauen wie lebende Wesen. Gott sei Dank, das Rosalia ist noch da! Noch immer befindet sich in dem Café nur ein einziger, noch dazu kleiner Garderobenständer. Das bedeutet, daß die meisten Gäste ihre Jacken und Capes und Tüten und Taschen auf den Stühlen neben sich zusammenknüllen und übereinanderstauen. Diese merkwürdigen, meist dunkelfarbigen Knäuel und Klumpen sehen aus wie kleine verhüllte Lebewesen, so daß die Räume momentweise anmuten wie ein Café für Tiere. Das Rosalia ist gut besucht; nur an der hinteren Wand, zum Hof hin, gibt es noch Platz. Am Tisch links von mir sitzen zwei ältere Frauen mit einem etwa neunjährigen Jungen, rechts von mir ein älteres Paar. Ich lehne mein Gepäck gegen die Wand und bestelle Menü I, Lachs mit Reis und Spinat. Die Tischdecke ist an drei Stellen sorgfältig gestopft, vermutlich von einer übriggebliebenen Oma, die niemals in den Gasträumen zu sehen ist. Der Junge löffelt aus einem Glasschälchen Blaubeeren mit Milch. Viele Beeren zerdrückt er, so daß sich die Milch mehr und mehr blau verfärbt. Milchblau, gibt es diese Farbe? Es gibt sie wohl nicht, aber sie leuchtet bis zu mir herüber. Die Frau neben dem Jungen beklagt sich über die Größe der Erdbeeren auf ihrem Obstkuchen. Der Junge weist sie zurecht: Wenigstens an den Erdbeeren soll sie nicht herumkritteln. Auch der ältere Ehemann rechts von mir wird kritisiert. Schau nicht immerzu auf deine kaputte Uhr, sagt die Frau neben ihm. Der Junge hat die Blaubeeren aufgegessen und beugt seinen Oberkörper nach vorne. Mußt du dein Haar auf den Tisch legen, sagt die zuvor von dem Jungen kritisierte Frau. Ich begreife, mein Glück ist, daß mich niemand beanstandet. Der Junge krabbelt unter den Tisch. Er legt sich auf den Rücken und schaut sich den Tisch von unten an. Mußt du mit deinem neuen Hemd den Boden aufwischen, ruft die andere Frau unter den Tisch. Es werden schon lange keine Beweise mehr gebraucht, daß man es auf der Welt nicht aushalten kann, aber hier wird gerade wieder einer geliefert. Der Lachs wenigstens ist ausgezeichnet, der Spinat ebenfalls. Ich versuche, dem Jungen unter dem Tisch zuzuzwinkern, aber es gelingt nicht. Die Frauen bemerken meine Solidarität mit dem Jungen und halten sie für problematisch beziehungsweise unangebracht. Sie rufen den Jungen hoch. Er sitzt jetzt ruhig
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