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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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merkwürdig es ist, daß ein einzelner Satz das letzte sein soll, was ich von Anuschka zurückbehalte. Über diese Merkwürdigkeit würde ich jetzt gerne mit Anuschka sprechen, obwohl Anuschka ihre Bemerkung von damals gewiß vergessen beziehungsweise niemals aufbewahrt hat und ich außerdem längst weiß, daß ich die Merkwürdigkeit des Lebens nur ausdrücken kann, indem ich meine Jacke in ein Gestrüpp oder ein Geröll werfe. Der Mann mit dem Schaufelgang holt ein Bonbon aus seiner Hosentasche, entfernt das Papierchen und steckt sich das Bonbon in den Mund. Das Einwickelpapierchen segelt auf die Straße und bringt jetzt, als ich an ihm vorübergehe, ein schönes sanftes Geräusch auf dem Beton hervor. Ich möchte stehenbleiben und dem Geraschel des Bonbonpapierchens noch ein paar Sekunden zuhören. In den Augenblicken, als die Merkwürdigkeit des letzten Satzes von Anuschka im Geraschel des Bonbonpapierchens aufgeht, möchte ich die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens das Geraschel nennen. Am liebsten würde ich mich niederbeugen zu dem Papierchen, das vom Wind mal hierhin und mal dorthin getrieben wird. Aber ich möchte auch dem Mann mit dem Schaufelgang noch eine Weile hinterhergehen, inzwischen fast schon mit Dankbarkeit, weil ich ihm das neue Wort für die Merkwürdigkeit verdanke. Versuchsweise stelle ich mir vor, ich nehme das Angebot von Messerschmidt an. Auf einen Schlag werde ich mit einer Großgruppe von örtlichen Wichtignehmern umgeben sein, Tag für Tag. Prompt fliegt eine kleine Schwermut heran, die ich jetzt über die Brücke trage. Ein ebenso kleiner Schmerz kaspert in mir herum und sagt: Du mußt deinen Vorteil suchen und das Angebot annehmen. Mit dem Schmerz werde ich fertig, aber gegen die Schwermut muß ich etwas tun. Sie tänzelt vor mir her und will mit mir anbändeln. Ich gebe ihr den Namen Gertrud, damit ich sie wirkungsvoller verhöhnen kann. Gertrud Schwermut, hau ab. Prompt stellt sie sich vor: Gestatten, Gertrud Schwermut, darf ich Sie ein bißchen herunterziehen? Hau ab, wiederhole ich. Sie verschwindet nicht, im Gegenteil, sie faßt mich an, ich spüre ihre schwarze Wärme. Vermutlich denkt sie, sie hätte mich im Griff. Sie drängt mich zum Brückengeländer hin, ich sehe auf das dunkle Wasser hinunter. Wie wärs mit einer Trennung vom Leben, fragt sie, wegen erwiesener Geringfügigkeit? Ich kenne diese Fragen, sie machen mich stumm. Gertrud redet auf mich ein wie ein schwer erziehbares Kind. Und doch ist sie ein bißchen verärgert, weil ich wieder nicht alles tue, was sie von mir verlangt. Eine halbe Minute kämpfe ich mit Gertrud Schwermut auf der Brücke, dann merke ich, es sind ihre Kräfte, die nachlassen, nicht meine. Den Mann mit dem Schaufelgang habe ich während des Fights mit Gertrud leider aus den Augen verloren. Ein Lieferwagen einer Glaserei fährt langsam vorüber. Auf einem Gestell auf der Ladefläche sind zwei hohe Schaufensterscheiben eingespannt. Ich wünsche mir, statt meiner sollen die beiden Schaufensterscheiben zerbersten und dann auf die Straße fallen, sofort. Aber dann fühle ich, derartig heftige Wünsche sind nicht mehr nötig. Gertrud Schwermut ist überwältigt, jedenfalls diesmal. Wenn mich jetzt keine weiteren Wegelagerer aufhalten, werde ich in Kürze zu Hause eintreffen. Aber ich habe mich zu früh gefreut. Auf der anderen Seite der Brücke löst sich Frau Balkhausen aus einem Fußgängerpulk und kommt direkt auf mich zu. Sie reicht mir ihre kleine kalte Hand und schaut mich an.
    Das Wochenende kommt, sagt sie, ich weiß absolut nicht, was ich machen soll.
    Leider traue ich mich nicht, Frau Balkhausen zu sagen, daß ich soeben Gertrud Schwermut niedergerungen habe, daß ich mich deswegen ein bißchen schwächlich fühle und daß mir Wochenenden, eigene und fremde, schon lange egal sind.
    Ich räuspere mich nur.
    Ich denke nach, was ich machen könnte, sagt Frau Balkhausen, aber es kommt nichts dabei heraus. Dann schaue ich aus dem Fenster, aber ich sehe nichts oder nur das, was ich gestern und vorgestern schon gesehen habe. Können Sie mir einen Rat geben?
    Ich? frage ich.
    Sie leiten doch ein Institut für Gedächtniskunst oder Lebensfreude oder was. Sie bieten doch Tageskurse an, nicht, das haben Sie selber gesagt. Ich interessiere mich für einen solchen Kurs, ich bin fast sicher, daß Sie mir helfen können.
    Ich starre Frau Balkhausen an, wahrscheinlich zu lang. Es überkommt mich Mitleid, auch Rührung, im Augenblick weiß ich mir nicht zu

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