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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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unverständlich und gleichzeitig am unerbittlichsten. Es kann freilich auch ganz anders sein (Möglichkeit II): Weil Himmelsbach durch meine Schuld nie erfährt, daß er beim Generalanzeiger nichts mehr zu bestellen hat, übertrage ich ihm auch die Schuld dafür, daß ich selbst beim Generalanzeiger erfolgreich bin; denn wo einmal Schuld ist, wird sich auch künftig neue Schuld sammeln. Möglichkeit III sieht ganz abgelegen aus, was eine Täuschung sein kann: In Wahrheit suchen Himmelsbach und ich schon seit langer Zeit einen körperlichen Kontakt, der durch die ahnungslose Mithilfe von Margots Körper endlich zustande gekommen ist; indem wir beide mit Margot verkehrt haben, sind wir uns zum ersten Mal nahe gekommen. Möglichkeit IV erschüttert mich persönlich am meisten; danach macht meine Übernähe zu Himmelsbach nur deutlich, daß das ganze Leben ein pausenloses gegenseitiges Sichaufdrängen ist, eine Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel. Plötzlich werde ich wieder schwach in den Knien. Ich habe ja von Anfang an gesagt, daß die Kräfte meiner Knie (von denen meines Kopfes ganz zu schweigen) nicht hinreichen, Ordnung in diese schwierigen Probleme zu bringen. Zum Glück habe ich meine Jacke nicht dabei. Sonst würde mich die niemals zu genehmigende Merkwürdigkeit des Lebens jetzt zwingen, die Jacke in irgendein Gestrüpp oder Geröll zu werfen und sie zwei Tage lang stumm anzuschauen. Während meiner inneren Erörterungen habe ich zum Glück Himmelsbach und Margot aus dem Blick verloren. Für Augenblicke überlege ich, ob ich wegen Himmelsbach die Stadt verlassen soll. Die Lächerlichkeit dieser Überlegung macht mich noch schwächer. Der gelbe Himmel nimmt langsam die Farbe von Orangen an. Bis zu meiner Verabredung mit Susanne habe ich noch mehr als eine Stunde Zeit. Ich will auf keinen Fall die ganze Zeit über nachdenken. Offenbar habe ich mich getäuscht. Es lief in meinem Inneren überhaupt kein Handel ab, sondern eine allmähliche Niederbeugung. Aber was ist denn niedergebeugt worden und wodurch genau? Guter Gott, jetzt gehen diese Fragen schon wieder los. Da kommt mir der Anblick eines etwa zehnjährigen Jungen zu Hilfe. Er betritt den Balkon eines Hauses in einer Seitenstraße und läßt eine an einer langen Schnur befestigte Kleiderbürste die Balkonbrüstung hinunterhängen. Eine Weile schwingt er die Bürste hin und her, dann hält er die Schnur an und wartet, bis die Bürste reglos hängt. Ich setze mich auf den Sockel einer Schaufensteranlage und betrachte die Bürste, die sich jetzt ganz langsam um sich selbst dreht. Der Junge tritt zurück in die Wohnung und schließt die Balkontür. Kurz darauf erscheint im Gardinenschlitz eines seitlich gelegenen Fensters das Gesicht des Jungen. Von dort betrachtet er die still hängende Kleiderbürste. Ich möchte so gleichmütig und ausgeglichen sein wie eine Bürste und dann wohlwollend von mir selber betrachtet werden. Ein paar Sekunden später muß ich über den vorigen Satz lachen. In Wahrheit bin ich dem Satz gleichzeitig dankbar. Er ist nur das Zeichen, daß ich mich habe beruhigen können. Ich glaube jetzt sogar, daß Teile der Ausgeglichenheit der Bürste auf mich selber übergehen. Ich rege mich im Augenblick nicht mehr darüber auf, daß ich nicht alles verstehe. Der orangefarbene Himmel wechselt erneut die Farbe. Über die Dachfirste schiebt sich ein Altrosa, das in der Höhe malvenfarbig wird. Ein leichter, kaum merklicher Wind schaukelt die Bürste hin und her. Auch dieses zu nichts führende Schaukeln würde ich gerne in mich aufnehmen. Ich halte es jetzt für meine Würde, daß ich nicht alles verstehe. Nach einer Dreiviertelstunde habe ich das Gefühl, daß die Kleiderbürste in meinem Körperinneren hin- und herschaukelt.
    Susanne hatte leider nicht die Möglichkeit, die letzte Stunde in der Nähe einer sanft schaukelnden Kleiderbürste zu verbringen. Sie ist nervös, leer, abgekämpft. Wir gehen ins VERDI. Die Küche gilt als hundertprozentig, das Lokal ist fast voll. Zum Glück gibt es keine Musik, das Licht ist gedämpft. Eine Weile sehe ich den Leuten dabei zu, wie sie sich fortlaufend herrichten, wie sie sich den Mund abwischen, wie sie sich die Hosen und Röcke hochziehen und sich die Frisuren zurechtrücken. Susanne bestellt eine Hühnerbrust mit einer Estragon-Senf-Sauce, ich entscheide mich für eine Focaccia mit Salbei. Susanne geht dazu über, die Leute ringsum zu verdächtigen oder still zu beschimpfen.
    Ich kann heute keine

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