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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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helfen, und doch fühle ich mich schon in der Pflicht. Immerhin hat Frau Balkhausen mir gegenüber die Diskretion des Leidens ein wenig gelüftet, dieser Entblößung kann ich kaum widerstehen.
    Dann rufen Sie mich doch einmal an, sage ich, vielleicht am Freitag nachmittag?
    Gerne! Danke!
    Frau Balkhausen nickt mehrmals, ich sage ihr meine Telefonnummer, die sie sich auf einem Zündholzbriefchen notiert.
    Vielen Dank, sagt sie, vielen Dank, und zieht weiter.
    Ich schaue ihr nach, sie dreht sich nicht um. Sie weicht einem Türken aus, der zusammen mit seiner verhüllten Ehefrau Plastikkleiderbügel aus einem großen Karton herausholt. Wenig später gehen die beiden mit mehreren, gegen ihre Oberkörper gedrückten Kleiderbügel an mir vorbei. Ich schaue das türkische Paar mit einem Anflug von Dankbarkeit an. Ihr Anblick verstärkt in mir das Gefühl, daß ich mich jetzt wieder in einem Kreis von Wirklichkeit bewege, der weit unterhalb meiner eigenen Kompliziertheit liegt. Wahrscheinlich deswegen habe ich auch Frau Balkhausen schon vergessen. Fünf Minuten später bin ich zu Hause. Immer öfter, wenn ich die Tür der Wohnung aufschließe, fällt mir neuerdings meine Mutter ein, wie sie damals, als ich Kind war, nach Hause kam und ich ihr aus der Tiefe der Wohnung entgegensprang. Und wie sie dann aufseufzte, ich solle sie doch erst einmal heimkommen lassen. Und wie ich daraufhin ein wenig gekränkt war, weil sie nicht genauso freudig gestimmt war wie ich. Jetzt betrete ich den Flur der Wohnung und sage halblaut den gleichen Satz wie meine Mutter damals: Laß mich doch erst mal heimkommen! Und ich schaue umher, ob ich mich nicht als empörtes Kind irgendwo herumlungern sehe. Für ein paar Augenblicke bin ich gleichzeitig meine Mutter und ihr Kind. Dann denke ich, jemand, der nach Hause kommt, ist nichts weiter als jemand, der nach Hause kommt. Es ist so sonderbar, daß ich das Küchenfenster öffnen muß. Auf dem Tisch liegt ein Stück Brot, das ich gestern habe wegwerfen wollen. Auch während des langsamen Kauens bin ich ein bißchen empört wie ein Achtjähriger und gleichzeitig ein bißchen genervt wie seine achtundvierzigjährige Mutter. Kurz darauf gerate ich in eine wunderbar lebensartige Stimmung. Ich schließe das Fenster und gehe zum Telefon. Ich rufe Messerschmidt an und sage ihm, daß ich sein Angebot annehme.

9
    Das Problem ist, daß ich so gut wie keine Lokale kenne, weder angenehme noch unangenehme, weder teure noch billige, weder deutsche noch ausländische. Lokalbesuche gehörten in den Jahren mit Lisa nicht zu unseren Gewohnheiten. Jetzt soll ich/muß ich ein sowohl freundliches als auch gutes und nicht zu teures Restaurant finden. Susanne hat am Nachmittag angerufen, sie will heute von mir abgeholt werden und dann mit mir essen gehen. Natürlich habe ich nicht gesagt, daß ich mich in der Lokal-Szene nicht auskenne, sie hätte es mir wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt. Ich habe mich frühzeitig auf den Weg gemacht, habe aber immer noch kein geeignetes Restaurant gefunden, das ich Susanne später wie selbstverständlich vorschlagen werde. Ich merke nur, daß mir die Aufgabe nicht das geringste Vergnügen macht, im Gegenteil, es gibt kaum etwas, was mir noch gleichgültiger ist als Restaurants. Dennoch schaue ich schon wieder in das Innere eines italienischen Lokals namens VERDI, das ich für passend halte, wenn ich einmal vom Namen absehe. Nicht weit vom VERDI entfernt befindet sich das MYKONOS, ein Grieche, den ich ausnahmsweise kenne, der wegen starker Musikbeschallung jedoch nicht in Frage kommt. Nach welchen Merkmalen soll man ein Restaurant aussuchen? Für mich ist ein Lokal schon fast annehmbar, wenn es nicht überfüllt ist; ich bin bereit, dafür ein nicht ganz so ausgezeichnetes Essen hinzunehmen. Dieses Kriterium wird Susanne vermutlich nicht teilen. Ich öffne die Tür eines thailändischen Restaurants, sofort schlägt mir süßliche Klingel-Klangel-Musik entgegen. Guter Gott! Die tiefstehende Abendsonne macht allen Menschen gelbe Gesichter. Mir gefallen ein paar Kinder, die mit erfundenen Erlebnissen prahlen. Wie heftig sie schon jetzt gegen Enttäuschungen anreden! In einer Nebenstraße sitzt eine Mutter in einem Auto und stillt ein Baby. Figurlos gewordene Frauen, in weite Gewänder gewickelt, huschen vorüber. Ein Mann zieht zwei himmelblaue Kunststoff-Krücken aus einem Auto und humpelt dann weg. Flüchtig denke ich an Lisa. Es scheint, ich habe sie vergessen. Nein, das stimmt so

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