Ein Regenschirm furr diesen Tag
unzufriedenen Gesichter um mich sehen, sagt Susanne, die machen mich nur aggressiv und wütend.
Susanne kann nicht einmal ertragen, daß der Löffel in der Salatschüssel auf sie zeigt. Ich rechne damit, daß sie sich bald über das falsche Leben beklagt, in dem sie schon so lange steckt, und mir die Geschichte von der Schauspielerei erzählt, die sie schon so lange unterdrückt. Wenn Lisa so verdrießlich war, dann wußte ich, daß sie in Kürze ihre Tage haben würde und dicht an der Weinerlichkeitsgrenze lebte. Das Wort Weinerlichkeitsgrenze hat Lisa erfunden. Ich würde es jetzt gerne wieder verwenden und Susanne direkt fragen: Befindest du dich an der Weinerlichkeitsgrenze? Vermutlich würde sich Susanne freuen, wie genau ich ihre Situation erkannt hätte. Der Kellner bringt die Hühnerbrust für Susanne und für mich die Focaccia. Viel zu hastig machen wir uns darüber her. Aber nach einer Weile wäre Susanne noch mehr verstimmt, weil sie natürlich ahnen würde, daß nicht ich das Wort Weinerlichkeitsgrenze erfunden hätte. Ich wäre eingeschüchtert und würde zugeben, daß das Wort zu den paar Sachen gehört, die mir von Lisa geblieben sind (außer dem Geld, das ich nicht erwähnen würde). Dann würde ich darüber reden, wie elend es ist, daß ich immer dann, wenn ich einen Menschen halbwegs verstehe, mich an einen anderen Menschen erinnern muß, den ich zuvor gekannt habe. Ich habe erst sehr spät anerkannt, daß die Menschen einander stark ähneln. Zuvor hatte ich lange Zeit geglaubt, sie seien sehr verschieden. Dabei war damals nur das Wort Weinerlichkeitsgrenze gut, nicht seine Wirkung. Es schob sich vor vieles, was Lisa mir hätte sagen können, wenn mich das Wort nicht so stark beeindruckt und abgelenkt hätte. Weinerlichkeitsgrenze! rief ich immer wieder und lachte dabei und merkte nicht, wie Lisa von ihrem eigenen Wort zum Schweigen gebracht wurde, jedenfalls oft.
Obwohl ich von den Leuten hier niemand kenne, sagt Susanne, habe ich das Gefühl, erst gestern mit ihnen in irgendeiner Gemeinschaftsküche gefrühstückt zu haben.
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Die Stimmung zwischen Susanne und mir gefällt mir nicht recht. Um sie zu verbessern, erzähle ich Susanne von einer Phantasie, die ich zu der Zeit hatte, als ich ihr kitschige Briefe schrieb.
Damals habe ich mir oft vorgestellt, wenn ich eines Abends nach Hause komme, sitzt du vor meiner Wohnungstür.
Hättest du mich reingelassen?
Es war eine Phantasie, nichts weiter.
Du hättest mich also nicht reingelassen?
Natürlich hätte ich. An manchen Abenden habe ich so sehr damit gerechnet, dich vor meiner Tür zu finden, daß ich vor Erregung feuchte Augen hatte.
Vor Erregung oder vor Erwartung?
Das habe ich damals nicht feststellen können.
Wir lachen.
Wenn ich feuchte Augen hatte, konnte ich nicht mehr denken, jedenfalls war das damals so.
Klar. Und heute?
Heute habe ich keine Phantasien mehr.
Ist das dein Ernst?
Ja. Meine Phantasien sind irgendwann abgestorben.
Das glaube ich nicht, sagt Susanne; wahrscheinlich bist du so sehr mit deinen Phantasien verwachsen, daß sie dir gar nicht mehr auffallen.
In diesem Augenblick wird die Musikbeschallung des Restaurants eingeschaltet. Das ist kein gutes Zeichen für den weiteren Fortgang dieses Abends. Susanne schnauft und schiebt den Rest ihres Huhns in die Mitte des Tischs. Vermutlich hätte ich mich vergewissern müssen, daß wir uns in einem Lokal ohne Musik befinden. Susanne schaut umher. Eine Weile sagen wir nichts zueinander.
Sieh dir die Frauen an, sagt Susanne; wie zwiespältig sie aussehen! Der Blick auf ihren Busen ist zwar anspornend, aber schau dir die traurigen Gesichter darüber an! Der Blick! Die bitteren Lippen! Und schon ist klar, daß die Freude an ihren Busen nicht groß sein wird.
Ich überlege, ob ich einen Nachtisch bestellen soll, aber dann frage ich: Sollen wir gehen?
Unseren Wein trinken wir noch aus, sagt Susanne.
Ein Kellner hat sofort bemerkt, daß wir gehen wollen. Er kommt herbei und legt die Rechnung auf den Tischrand.
Würdest du heute nacht bei mir bleiben?
Wenn du mich aushältst, sage ich.
Ich wollte fragen, ob du mich aushältst.
Wir lachen.
Du müßtest aber eine Aufgabe erledigen, sagt Susanne.
Ich warte.
Ich wache leider oft auf, sagt Susanne, jedenfalls zur Zeit, weil ich ein bißchen überdreht und flatterig bin. Ich werde oft das Licht anmachen und im Taschenspiegel meine wehe Zunge betrachten, ich werde Panik kriegen vor
Weitere Kostenlose Bücher