Ein reiner Schrei (German Edition)
Mum«, sagte er, doch diesmal war es eher ein Murmeln.
Shell und Trix gingen zurück in die Küche. Trix setzte sich mit einigen Papierpuppen, die Shell ihr aus einer alten Zeitung ausschnitt, auf den Boden. Es begann wieder zu regnen. Langsam verstrich der Nachmittag. Shell erledigte den Abwasch. Sie räumte den Kühlschrank aus. Sie staubte das Klavier ab. Dann bereitete sie das Abendbrot. Von Jimmy war nichts zu hören. Sie schaute bei ihm nach dem Rechten, doch er verschlief den ganzen Tag.
Dad hätte von seiner Sammelaktion längst zurück sein müssen. Wahrscheinlich würde er Jimmy aus dem Bett zerren, um das nächste Gesätz des Rosenkranzes mitzubeten. Inzwischen waren sie bei den glorreichen Geheimnissen angelangt, jenen mit den flammenden Zungen auf den Häuptern der Apostel, die ihnen die Fähigkeit verliehen, Unmengen von Sprachen zu sprechen.
Es war bereits nach sechs. Dad kam nicht. Shell legte den Deckel über seinen Anteil vom Fisch aus der Dose.
»Wo bleibt er nur«, sagte sie mehr zu sich als zu Trix.
Trix schob ein Viertel einer Tomate über ihren Tellerrand auf die Plastiktischdecke. »Hier ist er«, sagte sie und schnipste das Tomatenstück über den Tischrand auf den Boden. »Und jetzt ist er in einen Sumpf gefallen. Tot issa.«
Shell gluckste.
Sie hob das Tomatenstück vom Boden auf, hob den Topfdeckel an und schob es auf Dads Teller. »Wahrscheinlich wurde er in der Stadt aufgehalten«, sagte sie.
Trix half Shell beim Abräumen. Dann setzte sie sich zu Shells Füßen, um sich die verfilzten braunen Locken ausbürsten zu lassen. Sie hatten es seit Tagen nicht mehr gemacht und die Nissen waren wieder da. Während sie Trix kämmte, erzählte Shell ihr eine neue Geschichte von der Fee Angie Goodie, die sie sich zusammen ausgedacht hatten. Obwohl Angie Goodie nur so groß war wie eine Erbse, gelang es ihr jedes Mal, das Böse aufzuhalten. An diesem Abend ließ Shell sie bei Gewitter zur Kirchturmspitze hinauffliegen und dort über dem eisernen Kreuz schweben. Sie rettete die Kirche vor einem Blitzschlag, indem sie ihren Zauberstab hob. Der Blitz traf den Zauberstab statt der Kirche, und weil Angie Goodie eine Fee war, wurde sie nicht getötet, sondern ihre Flügel leuchteten heller als zuvor, und als nach dem Gewitter ein Regenbogen erschien, rutschte sie ihn hinunter, direkt in ihr kuscheliges, warmes Bett. Trix ging lammfromm schlafen. Jimmy schlief immer noch.
Shell ging an die Tür und schaute zu, wie die Dunkelheit sich auf den Hof herabsenkte. Sie lief bis zur Straße und dachte daran, wie wütend Bridie gewesen war. Und sie dachte an Pater Rose, an den Regenbogen und an Nelly Quirke, den Stoffhund, an sein Ohr in Jimmys Mund. In der braunen Stille der Landstraße dankte sie Jesus für die guten und die schlechten Dinge ihres Tages. Der Regen setzte wieder ein. Und da es sonst nichts mehr zu tun gab, ging sie hinein, um ein paar Scones zu backen.
Elf
Die Scones waren aus dem Ofen und bereits abgekühlt, als plötzlich die Haustür aufflog. Dad stand vor ihr, eine finstere Gestalt, umwirbelt von hereinfliegenden Regentropfen. Seine alte Jacke flatterte, auf seinem Kinn wucherten die Bartstoppeln. Die Sammelbüchse hing ihm verkehrt herum um den Hals, von der Kordel tropfte das Wasser und seine Krawatte saß schief.
Er stolperte in die Stube.
»Wo ’s das Abendessen?«
Shell stellte den Teller vor ihn hin und hob den Deckel.
Er riss sich die Sammelbüchse vom Hals und schleuderte sie mit einem Fluch zu Boden. Dann begann er schweigend zu essen.
Shell musterte ihn verwirrt. Er benahm sich anders als sonst. Was hatte das alles zu bedeuten? In diesem Zustand kam er normalerweise freitags nie nach Hause. Nur samstags und mittwochs. Es kam ihr vor, als sähe sie eine Träne, die ihm beim Kauen über die Wange bis zur Spitze seiner roten, breiten Nase lief und von dort auf den Sardinenteller tropfte. Shell hob die Sammelbüchse auf und schüttelte sie leicht – sie war leer. Jesus schlug eine verborgene Saite in ihrem Herzen an, die sie zuvor nicht einmal wahrgenommen hatte. Pater Rose hatte wohl Recht damit gehabt: Zorn und Liebe gehörten zusammen.
»Dad, geht es dir nicht gut?«, fragte sie.
Er schob den Teller fort, das Besteck entglitt seinen Händen und fiel auf den Tisch. Sein Kopf sank in die Hände.
»Shell«, sagte er. »Du bist ein gutes Mädchen.«
Seine Stirn zuckte und seine Augen waren feucht geworden.
»Ein gutes Mädchen, Gott sei’s gedankt.«
Shell gefiel
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