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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Jimmy waren in der Schule, nur sie und Mum waren im Haus, und Mum schaute mehrmals am Tag bei ihr herein, kam mit dem Thermometer und heißer Zitrone, fühlte ihre Wangen. Die Diele draußen vor ihrer Tür knarrte auf die vertraute Art und Weise. Shell konnte es nicht erwarten, Mum zu sehen.
    Das Lied verstummte, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Shell hielt den Atem an.
    Dann begann die Stimme von neuem, aber etwas hatte sich verändert. Eine furchtbare Traurigkeit hatte sich eingeschlichen. Vielleicht sagte das Mädchen zum letzten Mal etwas zu seinem Liebsten, ehe es starb. Oder vielleicht erklärte er ihr, warum er fortmusste. Ein hoher Ton zog sich höher und höher bis zu einem lang gehaltenen O, der großartigsten Stelle des Liedes. Doch anstatt wieder abzufallen und ein Ende zu finden, blieb der Ton dort oben hängen, wie eine Münze, die sich beständig um die eigene Achse drehte, unerträglich klar und rein. Er wurde zu einem brutalen, schrillen Schrei.
    Der Türgriff begann sich im selben Moment zu drehen, als Shell wieder einfiel, wie die Dinge in Wirklichkeit lagen.
    Mum war eigentlich tot. Ihr Gesang konnte gar nicht von innerhalb des Hauses kommen. Er kam aus ihrem Grab. Durch einen schrecklichen Irrtum hatte man sie lebendig begraben und sie sang nicht, sondern war am Ersticken.
    Shell hatte sich in Mum verwandelt. Sie war unter der Erde eingeklemmt, bekam keine Luft, drückte gegen die weiche weiße Polsterung ihres Sarges. Sie versuchte sich mit einem Ruck aufzusetzen, befand sich wieder im Hier und Jetzt. Ihre Finger kneteten die Decke. Samtene Finsternis bedrängte sie von allen Seiten …
    … Sie erwachte.
    Zuerst wusste sie nicht, wo sie war. In einem Sarg oder in einem Feld? Am Grabstein ihrer Mutter? Nein. Sie lag in ihrem eigenen Bett. Mums Finger mussten gerade über ihr Gesicht gestrichen sein.
    »Moira.« Eine vertraute Stimme. Er schon wieder. Sie erstarrte.
    Die Vorhänge waren ein wenig zurückgezogen. Durch den Spalt ergoss sich Mondlicht auf die Überdecken. Ihr Vater ragte schwankend am Fußende des Bettes auf, doch er hatte keine Kleider an. Seine Nacktheit war abstoßend. Shell hatte vergessen die Tür zu verriegeln.
    Ihr Herz raste. Ihr Atem ging stoßweise. Er taumelte auf sie zu.
    »Moira.«
    Seine Stimme klang schleppend. Shell hörte ein Rauschen in den Ohren.
    Mit einer Hand begann er den Saum ihres Kleides zu befummeln. Die andere glitt nach oben zu ihrem Haar, zog an dem Band. Seine Augen waren halb geschlossen, sein Atem roch schal und abgestanden. Die Fettpolster an seinen Armen wabbelten, während er weiter umhertastete.
    Jimmy murmelte irgendwas im Schlaf.
    Das Geräusch löste sie aus ihrer Erstarrung. Sie wusste, was zu tun war.
    Rasch rollte sie seitlich über die Bettkante, zu schnell für ihn, um sie festzuhalten.
    Seine Hände wanderten über das Bettzeug, hoben ein Kissen, als würde er nach ihr suchen.
    Sie ließ sich auf alle viere nieder und begann hinauszukrabbeln.
    Dad saß fuchtelnd und murmelnd auf dem Bett. Ob er wach war oder schlief, ließ sich schwer sagen.
    Leicht und geschmeidig wie eine Katze glitt Shell über den Fußboden und erreichte die Tür. Hinter sich hörte sie, wie er sich stöhnend auf ihrem Bett ausstreckte. »Moira. Geh nicht weg, Liebchen, komm zu mir.«
    Shells Magen zog sich zusammen. Jimmy warf sich im Schlaf seufzend hin und her, Trix atmete ganz ruhig.
    Shell schlüpfte zur Tür hinaus und schloss sie mit Nachdruck hinter sich.
    In der Küche kauerte sie sich auf den Stuhl. Herr im Himmel. Ihr Atem beruhigte sich wieder, während die Dunkelheit langsam schwand. Inzwischen musste er wohl bewusstlos sein. Sie wartete, bis die Vögel zu singen begannen, diesmal in Wirklichkeit und nicht im Traum. Dann trat sie ans Fenster und schaute hinaus. Die Grashalme waren grau. Auf dem Acker schlich sich die Morgendämmerung heran.
    »Ach, Mum.« Shell sagte es laut, doch der Ton verhallte im Nichts, legte sich schwer auf ihre Brust. Tränen begannen in ihren Augen zu brennen, und als sie fielen, machte sie sich nicht einmal die Mühe, sie fortzuwischen.
    »Warum musstest du nur sterben?«
    Keine Antwort, nur das Brummen des Kühlschranks war zu hören. Vielleicht war der Mann aus Galiläa nicht wie geplant auferstanden. Vielleicht lag er immer noch in seinem Grab, mausetot, genau wie Mum. Eine schmerzende Lücke riss in ihr auf, eine eiskalte Einsamkeit, wie ein weit entfernter Stern. Sie berührte die Tasten des Klaviers, drückte sie

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