Ein reiner Schrei (German Edition)
sachte herunter, so dass sie keinen Ton erzeugten.
»Ach, Mum.«
Aus dem Zimmer hörte sie das Bett knarren. Dad musste sich umgedreht haben, während er seinen Rausch ausschlief.
Das Haus war beklemmend. Sie öffnete die Haustür und atmete die Luft des frühen Morgens ein. Kühl war sie und frisch. Das Wäldchen oben auf dem Hügel schien ihr ein Zeichen zu geben. Weil sie nichts Besseres zu tun wusste, ging sie los, den Hang hinauf. Die Anstrengung trieb ihr die Farbe zurück in die Wangen. Ziellos wanderte sie zwischen den ernsten, grüblerischen Bäumen umher. Ein Star sang eine abfallende Tonfolge, die wie ein Seufzen klang.
Als sie ins Freie trat, stand sie vor dem Feld der Duggans.
Eine Gestalt wanderte dort entlang, kam ihr aus der Richtung von Coolbar entgegen. Im Näherkommen schien sie zunächst dunkler zu werden, dann milchig grau.
Shell dachte an Maria Magdalena am Grabe und wie sie den Mann, der ihr begegnete, für den Gärtner gehalten hatte.
Sie wartete.
War es Pater Rose? Der Größe nach zu urteilen … Shells Herz machte einen Satz. Auf seinem Haar schimmerte das Licht.
Drei erschrockene Kaninchen jagten mit großen Sprüngen davon, als der Mann sich näherte. Im nächsten Moment erkannte sie ihn. Es war nicht Pater Rose. Es war Declan.
»Shell«, sagte er und strahlte sie an. Ihm schien gar nicht aufzufallen, dass sie geweint hatte. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
Teil 2 Herbst
Siebzehn
Heiß brannte die Sonne herab. Die Luft stand.
»Wen hast du gern, Declan? Wen hast du auf der Welt am allerliebsten? Sag’s mir.«
Declan antwortete nicht. Stattdessen fing er an sie zu kitzeln, griff nach einem Gerstenhalm und strich ihr damit kreuz und quer über den Bauch, während sie nackt in Duggans Feld lagen. Das leichte Kribbeln bewirkte, dass sie sich wand wie ein Aal, und sie musste kichern. Er drückte sie zu Boden, fixierte ihre Schultern mit seinen starken Armen und kitzelte sie stärker. Shell boxte ihn auf den Rücken.
»Hör auf!«, kreischte sie.
»Ich hör auf … wenn du mir eine Kippe gibst.«
Shell suchte den Boden nach der Schachtel Majors ab. Sie zog eine heraus und steckte sie Declan in den Mund. Dann fand sie sein Feuerzeug und zündete sie ihm an. Declan nahm einen langen Zug und fuhr ihr mit den Fingern durch das Haar. Er rollte sie zur Seite und kuschelte sich von hinten an sie, schob seine Knie behaglich in ihre Kniekehlen. Ihre Treffen waren streng geheim; er hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie sich daran halten würde. Declan und ich, ein geheimer Club, dachte sie. Die langen Ähren schirmten sie von der Außenwelt ab.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte sie ihn.
»Hmmm«, murmelte er ihr ins Ohr. »Und du hast meine nicht beantwortet.«
»Du hast mir doch gar keine Frage gestellt.«
»Dann frag ich jetzt.«
»Was denn?«
»Wen du am liebsten hast. Auf der ganzen Welt?«
»Das war doch meine Frage.«
»Ist es Kevin Dunne aus Jahrgang fünf? Hat er ein Auge auf dich geworfen, dieser Stinker?«
Shell reagierte nicht.
»Er ist ein Schielauge und ein Pickelgesicht – aber er palavert ständig von seinen Freundinnen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Kevin Dunne also nicht. Mick McGrath vielleicht?«
»Mick McGrath?«
»Doch nicht der Vater, der Sohn!«
»Der ist doch in Cashel, im Internat, oder nicht?«
»Er hätte es ja in den Ferien versuchen können.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich sehe ihn fast nie.«
»Du verrätst es mir also nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn ich verspreche ein Geschenk für dich zu kaufen, verrätst du es mir dann?«
»Was denn für ein Geschenk?«
»Was du gerne hättest.«
»Egal was?«
»Ganz egal was, Shell Talent.«
»Würdest du mir einen neuen BH kaufen?«
Er lachte. »Welche Größe?«
»Keine Ahnung. Früher hatte ich 36C. Aber ich glaube, da bin ich inzwischen rausgewachsen.«
»Das würde ich auch sagen. Du hast Größe D. Wenn ich je eine mit Größe D gesehen habe, dann die. Oder beide.«
»Würdest du mir dann das Geld geben … wenn ich dir sage … wen ich am liebsten mag?«
»Das würde ich.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Sie lag ganz still und dachte nach. Dann drehte sie sich um und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Was?«, sagte er. »Ich hab’s nicht verstanden.«
»Es stimmt«, sagte sie laut. »Er ist es.«
»Aber ich hab den Namen nicht verstanden. Flüstere noch mal.«
Sie beugte sich
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