Ein reiner Schrei (German Edition)
sollen, war aber trotzdem nicht erschienen.
Sie bereitete das Abendbrot zu. Im Gefrierfach gab es dünn geschnittenen Frühstücksspeck. Shell taute ihn gar nicht erst auf, sondern briet ihn gleich zusammen mit den Brotscheiben.
Vielleicht war der Bus, den er genommen hatte, ja in einer scharfen Kurve umgekippt und alle Insassen waren dabei ums Leben gekommen.
Oder vielleicht hatte Dad sich in den Fluss gestürzt.
Oder ein Dieb hatte ihn niedergeschlagen, und als er aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, hatte er vergessen, wer er war.
Oder er war davongelaufen, hatte sie verlassen und das Boot genommen, das nach Wales übersetzte.
Shell lächelte gedankenverloren, während sie ihr Abendbrot aß. Sie war hungrig. Jimmy und Trix schnitten ihre Brotrinde ab und Shell aß alles auf. Als sie fertig waren, sagte Trix: »Superlecker. Darf ich mich entschuldigen, Shell?«
»Dürft ihr, alle beide.«
Sie schossen pfeilschnell zur Tür hinaus, um ihre Abendspiele zu spielen.
Shell räumte ab und summte dabei Mums Lieblingslied vor sich hin, das von dem Soldaten, der dem Mädchen die Hochzeit verspricht, »wenn man aus Muscheln irgendwann Hochzeitsglocken machen kann«. Shell fand die Vorstellung so romantisch, eine Braut und ein Bräutigam, und ein großes Hochzeitsfest, die Allee hinauf zur Kirche von Coolbar zu schreiten, und dazu der Ton von klimpernden Muscheln. Sie fegte den Boden, spülte die Teller und räumte alles weg. Das Fett ließ sie in der Pfanne, falls Dad es noch brauchte, wenn er auftauchte.
Als alles erledigt war, setzte sie sich in Dads Sessel, um von Declan zu träumen. Es war der einzige Sessel im ganzen Haus. Shell wagte es immer nur dann, sich dort hinzusetzen, wenn Dad weit fort war.
Ihre Arme ruhten auf den Lehnen und sie schloss die Augen.
Declan war wieder bei ihr und pustete in ihre Stirnfransen. Shell umarmte sich selbst, mit geschlossenen Augen, stellte sich jede kleinste Bewegung vor. Du bist meine Liebste, sagte er. Wir werden heiraten, Shell, sobald wir die Glocken fertig haben.
Seit vier Monaten oder länger, und niemand wusste davon.
Eine kalte Nadel schlängelte sich mitten durch ihr Innerstes von morgens bis abends.
Das Schlimme, woran sie nicht zu denken versuchte, kehrte zurück. Es überfiel sie immer wie plötzlicher Gestank, wenn sie nicht damit rechnete. Sie konnte gerade eine Straße überqueren und erstarren, direkt vor einem Auto, das auf sie zufuhr. Oder sie war dabei, Scones zu machen, und stellte auf einmal fest, dass sie den Teig zu Brei geknetet hatte. Und jedes Mal wurde sie mitten aus ihren Gedanken herausgerissen wie eine Fliege, die an einem Fliegenfänger hängen blieb.
Der Fluch war nicht mehr gekommen. Schon seit langer Zeit nicht mehr.
Sie wusste alles über den Fluch. Mum hatte es ihr erklärt, ein paar Jahre vor ihrem Tod. Dann hatte der Fluch an einem nassen Wintertag begonnen, als es Mum bereits schlecht gegangen war. Shell erinnerte sich, wie sie sich gekrümmt hatte, draußen im Regen, auf dem Heimweg von der Schule, als die seltsamen Schmerzen ihren Bauch durchzuckten. Shell hatte angefangen zu zittern. Ihre Beine fühlten sich an, als könnten sie jeden Moment nachgeben. Ihr war, als würde sich in ihr ein großer Klumpen Teig aufblähen, der einen heftigen, dumpfen Schmerz verursachte. Mum hatte ihr Tabletten und alles Notwendige gegeben und ihr erklärt, was zu tun sei. Shell erinnerte sich an ihre Worte: Es ist ein komisches Gefühl, Shell. Aber es ist normal. Das ist dein Körper, der jeden Monat darauf hofft, dass ein Baby in dir wächst. Ich erinnere mich noch an Schwester Assumpta in meiner Klosterschule – hinter ihrem Rücken haben wir sie immer ausgelacht! – und sie nannte es immer »die Tränen einer enttäuschten Gebärmutter«. Wenn das Kind nicht entsteht, gibt dein Körper auf und lässt los. Dann beginnt er im nächsten Monat wieder von neuem, mit neuer Hoffnung. Und was ist, wenn das Kind entsteht?, hatte Shell gefragt. Dann kommt der Fluch nicht. Alles bleibt in deinem Körper und bildet ein schönes warmes Nest für dein Baby, damit es darin liegen kann. Es ist ein Segen der Natur, Shell. Nichts, wovor man Angst haben müsste. Warum wird es dann Fluch genannt?, wollte Shell wissen. Mum hatte ihr durchs Haar gewuschelt. Wir Frauen neigen eben dazu, die Dinge zu dramatisieren, Shell. Bei uns in der Schule gab es einen Witz: »Was ist besser, der Fluch oder kein Fluch?« Und die Antwort lautete: »Verflucht, das kommt drauf
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