Ein reiner Schrei (German Edition)
»Vielleicht hab ich das. Vielleicht auch nicht. Raus mit dir, Shell. Verschwinde!«
Sie zuckte mit den Schultern und ging.
Als sie hinaustrat, sah sie Jimmy und Trix drüben beim Steinhaufen. Jimmy hatte die Arme seitlich ausgestreckt, wie ein Flugzeug, Trix war am Hüpfen und spielte Himmel und Hölle. Statt sich ihnen anzuschließen, schlich Shell auf Zehenspitzen zur Vorderseite des Hauses und duckte sich unterhalb des Fensters, das sie absichtlich offen gelassen hatte.
Sie konnte hören, wie Dad drinnen umherging. Ein Möbelstück – vielleicht ein Stuhl? – wurde über den Boden geschleift. Sie hob den Kopf bis zum Fenstersims und spähte hinein.
Es war der Sessel, den er bewegt hatte. Er hatte ihn weggerückt, als hätte er vor, den Boden vorm Klavier zu wischen. Dann sah sie, wie er unterhalb der Klaviertastatur herumfuhrwerkte. Er löste die Holzverkleidung über den Pedalen. Shell hatte ganz vergessen, dass man sie herausnehmen konnte. Schon seit geraumer Zeit vor Mums Tod war es nicht mehr gemacht worden, seit der Klavierstimmer zum letzten Mal da gewesen war. Sie duckte sich wieder, als Dad aufstand und die Holzverkleidung beiseitestellte. Dann riskierte sie einen zweiten Blick; er hatte die Holzverkleidung an den Tisch gelehnt, hockte nun wieder vor dem Klavier und holte eine Flasche Whiskey und eine Teedose heraus, die Shell schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Dann trug er beides hinüber zum Tisch und setzte sich damit hin, ihr den Rücken zugewandt. Shell konnte nicht erkennen, was er tat, doch sie sah, wie er mehrmals kurz mit dem Kopf nickte, als würde er etwas zählen. Und sie sah, wie er ein paar Schlucke Whiskey nahm, direkt aus der Flasche.
Halb lächelnd huschte sie ums Haus zum Acker.
Dad. Der sie um acht Uhr morgens vor die Tür jagte, um in Ruhe saufen zu können. Dad. Ein Sozialhilfeempfänger, der sich nicht traute seine unehrlichen Einkünfte aus den Sammelbüchsen auf ein Bankkonto einzuzahlen.
Später am Tag, als er zu seiner üblichen Mittwochabend-Sauftour ausgegangen war und Trix und Jimmy bereits im Bett lagen, öffnete sie selber das Klavier.
Sie fand die Teedose. Daneben standen zwei Whiskeyflaschen, die eine zur Hälfte geleert. Sie drehte den Verschluss der Flasche auf und roch an ihr. Es war wie ein Gemisch aus Zucker und Zitrone. Sie dachte an Pater Roses Flasche Bitter Lemon und musste lächeln. Dann öffnete sie die Teedose. Sie war bis zum Rand vollgestopft mit Papiergeld. Shell zählte es.
Es war ein Vermögen. Hunderte von Scheinen, überhaupt keine Münzen.
Sie füllte sich einen kleinen Schluck Whiskey ab und kippte ihn runter. Ihr Magen drehte sich um. Die brennende Flüssigkeit kam ihr fast wieder hoch. Was war daran bloß so gut? Es schmeckte nicht süß. Es sprudelte nicht. Es war erst lauwarm und brannte dann wie Feuer. Es schmeckte nach versengtem Heu. Sie hustete und ihr Magen verkrampfte sich erneut. Für einen kurzen Moment glaubte sie sich übergeben zu müssen. Rasch stellte sie die Flasche zurück ins Klavier. Dieses Zeug würde sie nie wieder anrühren.
Sie wandte sich der Teedose zu. Am liebsten hätte sie das Geld genommen oder zumindest einen Teil davon. Sie stellte sich vor, mit Bridie bei Meehan’s in der Wäscheabteilung die wehenden Negligés und BHs aus Spitze anzuprobieren und alle zu kaufen, anstatt sie stehlen zu müssen. Oder sie würden zusammen in die Spielhalle von Castlerock gehen und eine Münze nach der anderen einwerfen und ein ganzes Meer von Münzen würde sich über ihre Füße ergießen. Und dann sah sie sich und Bridie auf einem Boot, das nach England hinüberfuhr, auf der Flucht, mit Seewind in den Haaren, frei wie die kreisenden Möwen.
Sie seufzte. Wahrscheinlich hatte er alles bis zum letzten Schein genau gezählt. Und Bridie redete nicht mal mehr mit ihr. Sie verschloss die Dose wieder und stellte sie zurück. Dann setzte sie die Klavierverkleidung wieder an Ort und Stelle, so leise wie möglich.
Zwanzig
Der Büchereibus kam an einem Freitag in die Stadt.
Shell hatte ihn früher nie genutzt, aber sie hatte ihn auf ihrem Heimweg von der Schule oft auf der Grünfläche am oberen Ende des Piers stehen sehen. Er fiel ihr erneut auf, als sie ihre üblichen Besorgungen gerade erledigt hatte und zur Haltestelle zurücktrottete. Der Büchereibus war groß und weiß, mit einer grünen Aufschrift an der Seite und einer leichten Aluminiumtreppe, die hineinführte.
Einer plötzlichen Laune folgend stieg sie
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