Ein reiner Schrei (German Edition)
an, ob man verheiratet ist!«
Shell konnte sich nicht daran erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal gehabt hatte. Sie verzog das Gesicht, kniff die Augen zusammen und ging in Gedanken die Sommerferien durch, ihre wöchentliche Arbeit, die Tage der heiligen Messe, die Abendessen, die sie zubereitet hatte, die Einkaufstage. Sie durchlebte das letzte Sommerhalbjahr noch einmal. Sportunterricht. Schriftliche Arbeiten. Das Herz-Jesu-Fest, als in der Schule Tomatensandwiches und Kekse verteilt worden waren, die sie draußen auf dem Rasen gegessen hatten. Bridie Quinn war samt ihrem Sandwich mit Theresa Sheehy abgezogen und hatte Shell ignoriert, wie sie es schon seit Ostern tat. Sie saß nicht mal mehr im Bus neben ihr und hatte alle Versuche von Shell, wieder Frieden zu schließen, abgewiesen. Ohne Bridie war der Schulalltag langatmig und leer. Shell zuckte mit den Schultern und versetzte sich zurück in den Mai, alles davor war nur noch verschwommen.
Sie erinnerte sich an keine Fluch-Tage.
In der Abendhitze lauschte sie auf die Geräusche im Haus. Fliegen umsurrten die Fliegenfänger. Aus der Ferne, vom Acker, hallten die Stimmen von Jimmy und Trix herüber. Die Uhr auf dem Fenstersims tickte. Hätte sich doch die frühere Bridie, die kluge, patente, einfach so neben ihr materialisieren können, um ihr mit einem Flüstern ihre Ängste zu nehmen! »Du fantasierst«, ließ sie Bridie in ihrer Vorstellung sagen. »Du bist so schwanger wie Mutter Teresa!«
Sie warf einen Blick auf den heiligen Kalender an der Wand, der immer noch den Mai anzeigte, weil seither niemand daran gedacht hatte, ihn umzublättern. Auf dem Bild war die Jungfrau Maria in der Grotte von Lourdes zu sehen, mit einer über ihrem Kopf schwebenden Krone aus Sternen und liebevoll ausgestreckten Armen. Über die Felsen ergoss sich der wallende Stoff ihres blauen Mantels und am Rand kniete die heilige Bernadette im rot-grünen Gewand einer Bäuerin. Neben ihr entsprang dem Boden eine plätschernde Quelle.
Mum hatte eine Pilgerfahrt nach Lourdes gewollt, um geheilt zu werden. Doch Dad hatte es nicht erlaubt.
Shell schreckte aus dem Sessel hoch, als sie hörte, wie draußen ein Auto hielt. Eine Wagentür schlug zu. Sie hörte, wie Dad sagte: »Vielen Dank, Pater.« Shell warf einen verstohlenen Blick durchs Fenster und sah, wie Pater Carroll winkte und auf die Straße nach Coolbar einschwenkte.
Ihr Vater blieb einen kurzen Moment auf dem Pfad stehen. Er trug seinen besten Anzug. Vor einigen Monaten hatte er ihn aus der Plastikfolie gewickelt, um ihn für seine Ausflüge in die Stadt anzuziehen. Das Jackett stand offen, das Hemd darunter hatte er seit zwei Tagen nicht gewechselt. Er schaute zu Jimmy und Trix hinüber, die oben am Hang über den Acker rannten, auf das Wäldchen zu, vielleicht, um Dad auszuweichen. Sie sah, wie seine Schultern nach unten sanken, wie er den Kopf hängen ließ. Pater Carrolls Wagen verschwand in der Kurve.
»Shell!«, rief Dad. Sie hörte, dass er keine gute Laune hatte. Aber betrunken war er nicht.
Sie stellte eine Herdplatte an, um die Pfanne zu erhitzen.
Neunzehn
Mit Dads Rückkehr begann wieder das frühe Aufstehen und Steinesammeln. Es war der Morgen des ersten Herbsttages. Auf dem Gras lag Tau, ein Geruch von Vitalität erfüllte den Hof. Der Steinhaufen überragte Shell inzwischen und war breiter, als Trix groß war.
Trix und Jimmy gingen schon voraus, während Shell noch die Cornflakes und das Marmeladenglas in den Schrank zurückstellte. Sie wischte die Plastiktischdecke ab, während Dad ungeduldig das Kleingeld in seiner Tasche klimpern ließ.
»Nun mach schon«, sagte er.
Sie spülte die Krümel vom Schwamm.
Sie schob die Stühle an den Tisch.
Sie öffnete das Fenster, um zu lüften.
Er schnalzte missbilligend mit der Zunge.
»Dad«, sagte Shell und hängte das Geschirrtuch über die Stuhllehne. »Es gibt keine Steine mehr zum Aufsammeln.«
Es wurde still in der Küche. Sie konnte sehen, wie sein Mund sich verzog, seine Brauen sich senkten.
»Wir haben jeden einzelnen Stein auf dem Acker hinterm Haus aufgesammelt.«
»Dann kontrolliert es noch mal, Zentimeter für Zentimeter.«
»Aber wozu, Dad? Zum Pflügen ist es dieses Jahr zu spät. Oder hast du vor, das Feld zu verkaufen?«
Er schnaubte und erhob sich. Sie sah, wie seine Handfläche sich streckte, wie bereit zum Schlag. Er hob sie, kam auf sie zu, hielt inne. Sie stand reglos da.
Dads Arm sackte nach unten. Er atmete aus, heftig und lang.
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