Ein reiner Schrei (German Edition)
Baumstamm, neben einem Haufen Holzspänen, in dem sie das Buch rasch verstecken konnte, falls jemand plötzlich vorbeikam. Doch es kam nie jemand. Shell las sämtliche Artikel zum Thema Schwangerschaft, die sie finden konnte. Sie schaute sich Bilder von Föten an, die sich im Bauch aufblähten und jungen Lachsforellen ähnelten. Dann bekamen sie Nasen, Hände und Finger und gekrümmte Rücken und sahen aus wie eine Karte von Irland. Shell betrachtete die Bilder und dann ihren Bauch. Sie konnte nicht glauben, dass ein derartiges Wesen in ihr heranwuchs. Ihr Bauch war fester als gewöhnlich, weniger wabbelig. Doch abgesehen davon stand er nicht so vor wie auf den Bildern. Sie fand den Artikel über die Amenorrhö wieder. Dort stand, dass der Fluch zuweilen auch aus anderen Gründen ausblieb. Genau wie bei mir, entschied sie. Ich habe einen leichten Anfall von Amenorrhö.
Ein kurzes Gespräch mit Mrs Duggan eine Woche später überzeugte sie nahezu. Es war ein Samstag und Shell kam, um Trix und Jimmy vom Spielen abzuholen. Mrs Duggan hatte sich in einen Sessel plumpsen lassen, die Füße auf dem Hocker, und bat sie, sich zu ihr zu setzen.
»Es geht mir nicht so gut, Shell. Trix und Jimmy werden mir in letzter Zeit zu viel.«
»Entschuldigen Sie, Mrs Duggan. Was fehlt Ihnen denn?«
Mrs Duggan setzte ein seltsames Lächeln auf, das gar kein richtiges Lächeln war. »Es ist wieder mal was unterwegs. Ein Baby. Deswegen bin ich so müde und mir ist schlecht. Normalerweise wird einer Frau in den ersten zehn Wochen oder so übel. Dann geht es vorüber. Aber ich bin schon weit drüber hinaus und fühle mich immer noch genauso schlecht.« Sie verzog das Gesicht und rutschte nervös in ihrem Sessel herum.
»Sie sind schwanger, Mrs Duggan?«
Sie nickte. »Leider Gottes, das bin ich.« Mrs Duggan seufzte.
Sie saßen schweigend da. Shell ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Sie war nicht so sauber wie sonst und ihr fiel ein, dass es schon seit Ewigkeiten keinen selbst gebackenen Obstkuchen mehr gegeben hatte. Dann musterte sie Mrs Duggans Bauch und stellte fest, dass er riesig war. Wieso war ihr das vorher nur nicht aufgefallen?
»Dr. Fallon hat mir gesagt, ich soll mich ausruhen, um den Blutdruck niedrig zu halten, Shell. Deswegen muss ich dich bitten Trix und Jimmy im Moment nicht mehr vorbeizubringen. Zusammen mit meinen beiden wird es einfach zu viel. Nur fürs Erste.«
Shell nickte. »Sie toben gern herum«, erklärte sie.
Mrs Duggan lächelte schwach. Ihre Augen schlossen sich, als würde sie jeden Moment einnicken.
»Mrs Duggan?«, fragte Shell. »Darf ich Sie was fragen?«
»Was denn, Shell?«
»Wenn etwas unterwegs ist … Woran merkt man es?«
»Habt ihr denn heutzutage keinen Biologieunterricht mehr?«
Shell zuckte mit den Schultern. »So was Ähnliches.«
»Ich sag dir, woher ich es weiß, Shell. Jedes Mal, mit absoluter Sicherheit, weiß ich es schon nach ein paar Tagen. Weil ich dann nämlich sofort keinen Räucherlachs mehr mag. Normalerweise ist das mein Lieblingsgericht. Wir essen ihn zu Weihnachten und zu Ostern oder wenn wir Gäste haben. Jack holt den über Eichenholz geräucherten, von den Fischereien am anderen Ende der Stadt. Aber wenn bei mir was unterwegs ist, werden mir schon allein bei dem Gedanken an das orangefarbene schrumpelige Lachsfleisch die Hände feucht. Und bei dem Geruch muss ich würgen.« Sie lachte und wuschelte Shell durchs Haar. »Es ist ein bombensicherer Test. Halt mir ein Stück Räucherlachs unter die Nase und ich weiß sofort Bescheid.«
Mit einem Lächeln schloss sie die Augen wieder.
Shell stand auf. »Also dann, auf Wiedersehen, Mrs Duggan«, sagte sie.
»Auf Wiedersehen, Shell. Tut mir leid wegen der Kleinen.«
»Keine Sorge, Mrs Duggan. Morgen müssen sie sowieso wieder zur Schule.«
Shell probierte Mrs Duggans Methode gleich am nächsten Tag aus, nachdem sie Trix und Jimmy zur Schule gebracht hatte. Sie hatte Dad ein paar Münzen aus seiner Ersatzhose geklaut, ging damit in die Stadt und kaufte die kleinste Packung Räucherlachs, die sie finden konnte. Als sie nach Hause kam, öffnete sie sie sofort und roch daran. Dann legte sie eine der orangefarbenen Scheiben auf ein Stück Brot mit Butter und aß es auf.
Sie schnitt sich noch eine Scheibe Brot ab und aß weiter. Und dann noch mehr, bis die ganze Packung leer war. Nie zuvor hatte ihr eine kleine Zwischenmahlzeit so gut geschmeckt.
Sie stopfte die Verpackung ganz zuunterst in den Mülleimer und
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