Ein reiner Schrei (German Edition)
Shell ist schwanger, zweifellos.
Fast konnte sie Bridies amüsiertes Gekicher hören und wenig später schlief sie ein.
An einem Samstagmorgen gegen Ende Oktober wachte sie auf und stellte fest, dass Trix und Nelly Quirke bei ihr im Bett lagen. Trix lag auf dem Rücken und sang ihre Quatschlieder zur Decke hinauf.
»Trix, was tust du denn hier?«
»Du hast geweint, Shell. Im Schlaf. Deswegen bin ich zu dir ins Bett gekrochen.«
Shell strich ihr über das Haar. »Die dumme Shell, weint im Schlaf«, murmelte sie.
Trix drehte sich zappelnd auf den Bauch. »Fingerbilder, Shell!«
»Nicht schon wieder.«
»Bitte!«
Shell tauchte ihren Zeigefinger in einen imaginären Eimer Farbe. Sie malte Trix einen großen Baum auf den Rücken, mit Zweigen, die bis zum Hals und an die Schultern reichten, und Wurzeln bis zu ihrem Hintern.
»Das ’s ja einfach. Ein Baum!«
Shell begann jedes Mal mit einem Baum. Als Nächstes malte sie Nelly Quirke, sogar ihr zerkautes Ohr.
»Keine Ahnung. Mal’s noch mal.«
»Noch mal?« Sie malte es ein zweites Mal und Trix erriet es. Sie hatte es von Anfang an gewusst, mit Sicherheit, sie wollte das Spiel bloß in die Länge ziehen.
»Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Shell und drehte Trix ihren Rücken zu.
Jimmy setzte sich in seinem Bett auf und schaute zu. »Mal doch einen Betonmischer«, schlug er vor.
Trix begann mit einer langen Linie, die spiralförmig nach oben ging, bis unter Shells Arme, dann nach unten, rings um ihre Taille.
»Ein Betonmischer?«, riet Shell.
»Nein.« Trix’ Finger kreiste weiter.
»Sie denkt es sich erst beim Malen aus«, behauptete Jimmy.
»Das kitzelt, Trix! Hör auf!«
»Rate. Was ist es?«
»Weiß nicht. Wellen im Meer?«
»Nein. Ein Haufen Schlangen.« Trix’ kleine Hände umfassten Shells Bauch und fingen an zu kitzeln. Als sie die Mitte der Wölbung erreichten, hielten sie inne. »Was ist das denn?«
»Pscht, Trix. Gar nichts. Bloß ich.«
»Der ist ja riesig.«
»Das liegt nur daran, wie ich liege.«
»Der ist, wie der von Mrs Duggan war. Bevor sie ins Krankenhaus musste.«
»Nein, ist er nicht, Trix. Sei still.«
Jimmy stürzte sich auf sie und Trix und riss die Bettdecke weg. »Zeig her!«, kreischte er.
»Geht runter, ihr beiden. Runter!« Sie boxte nach ihnen.
»Das sieht ja aus, als wär ein Fußball drin.«
Shell rollte sich schluchzend zusammen. »Runter vom Bett. Alle beide.« Sie merkte, wie sie zurückwichen. »Ihr weckt noch Dad auf.«
Sie lag ganz still da und rührte sich nicht.
»Lebst du noch?«, fragte Trix.
Shell öffnete die Augen. Trix stand auf der einen Seite ihres Bettes, Jimmy auf der anderen. Beide starrten sie an.
»Es ist ein Geheimnis, okay? Mein Bauch. Ein Geheimnis. Ihr dürft es niemandem sagen, verstanden?«
Trix nickte. Jimmy nickte.
»Wenn ihr es irgendjemandem sagt, bringt Dad mich um. Kapiert? Er bringt mich um.«
Wieder nickten sie. »Er bringt dich um«, wiederholte Trix.
Jimmys Sommersprossengesicht schaute betreten beiseite. »Musst du denn nicht ins Krankenhaus, Shell? So wie Mrs Duggan? Muss man da nicht hin, damit sie das Baby rausziehen?«
Sie konnte sich nicht vorstellen, wo er das herhatte.
Shell seufzte und schüttelte den Kopf. »Jeder Dummkopf kann ein Baby rausziehen«, sagte sie. »Das kann man selber machen. Es springt einfach raus, weißt du. Wenn es fertig ist.«
Jimmys Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Wie Toast? In einem Toaster?«, fragte er.
Shell wischte sich die letzten Tränen fort. »Ja, Jimmy. Genau wie Toast.«
Siebenundzwanzig
Jimmy fand einen alten Pullover, der in der Nähe der Schule über einem Zaun hing, schwarz, dick und lang. Er brachte ihn Shell mit nach Hause und sie wusch ihn aus und zog ihn an. Der Pullover war so lang und weit, dass er ihr bis über die Oberschenkel reichte und die Wölbung des Bauchs verdeckte.
Morgens fühlten Trix und Jimmy abwechselnd nach dem Zucken unter ihrer Bauchdecke. Jimmy meinte, es wäre ein eingesperrter Frosch. Trix sagte, es sei ein Spatzenflügel.
Dad kam und ging, mal betrunken, mal nüchtern, von Freitag bis Montag. Shell hatte nicht den Eindruck, dass er irgendetwas merkte. Er schien weder sie noch sonst jemanden mehr anzuschauen. Er starrte ständig nur vor sich hin, als würde dort in nächster Nähe unsichtbar schwebend sein Schicksal auf ihn warten.
An Allerseelen mussten sie alle wie gewöhnlich pünktlich um sechs Uhr abends niederknien, um den Rosenkranz zu beten. Sie waren beim ersten der
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