Ein reiner Schrei (German Edition)
freudenreichen Geheimnisse, der Verkündigung, als der Erzengel Gabriel Maria erscheint und ihr sagt, dass sie ein Kind unter dem Herzen trägt. An diesem Tag konnte Shell allerdings nur das Traurige darin erkennen. Wer hatte wohl je an eine unbefleckte Empfängnis geglaubt, damals wie heute? Die einfachen Leute von Nazareth, davon musste man ausgehen, waren nicht anders gewesen als die Einwohner der Grafschaft Cork. Während sie das erste Vaterunser herunterratterten, dachte Shell an Marias kargen Raum, eine Kniebank, ein Gebetbuch, Blumen, ein goldener Heiligenschein, und dann das offene Fenster, das den Blick auf einen strahlend blauen Himmel freigab, voller weißer Engel. Das Gesicht des Erzengels Gabriel war das von Pater Rose. Dad sprach ihnen vor, als sie mit den zehn »Gegrüßet seist du, Maria« begannen.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir,
du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes …
Seine Stimme wurde leiser und verstummte. Trix und Jimmy leierten das Gebet noch herunter, bis es zu Ende war. Sie tauschten nervöse Blicke, rätselten, warum Dad wohl aufgehört hatte. Das hatte er noch nie getan. Trix begann ein zweites »Gegrüßet seist du, Maria«, geriet bei dem Wort Gnade jedoch ins Stocken. Alle knieten und schwiegen, irgendetwas stimmte nicht. Dad würde mit Sicherheit jeden Moment explodieren. Doch stattdessen erhob er sich und ging ohne ein Wort in die Diele. Sie hörten, wie er das Haus verließ und in die Nacht hinauslief. Als sie zu Bett gingen, war er noch immer nicht zurück.
Nach diesem Vorfall gab es keine abendlichen Rosenkranzgebete mehr.
Es folgte ein Sonntag, an dem Shell es nicht mehr schaffte, sich in ihr Messekleid zu zwängen, das sie für gewöhnlich trug. Es war ein langärmeliges Kordsamtkleid, mit Reißverschluss am Rücken und an der Taille gerafft. Der Reißverschluss ging einfach nicht zu, weder als Trix daran zerrte noch Jimmy. Shell zog ihre Jeans wieder an, die sie inzwischen mit einem Gürtel oben hielt, kaschiert von ihrem langen schwarzen Pullover. Sie ging hinaus in die Küche.
»Dad«, sagte sie. »Ich kann heute nicht in die Kirche gehen. Ich bin krank.«
Sie gab sich Mühe, bleich und geschwächt zu wirken, obwohl sie wusste, dass ihre Wangen glühten.
Dad blickte von seinem Stuhl auf, er hatte sich gerade vornübergebeugt, um die Schuhe zuzubinden. Sein Blick schoss an ihr vorbei und traf die Wand.
»Krank?«
»Ich habe Schmerzen, Dad. Kopfschmerzen.«
Er nickte. »Dann bleib zu Hause. Du kannst dich um das Abendessen kümmern.«
Seitdem kam sie jeden Sonntag mit derselben Ausrede zu ihm und jedes Mal gab er dieselbe Antwort.
Unter der Woche borgte sie sich, immer wenn sie das Haus verließ, seinen Regenmantel, der an ihr herunterhing und fast bis zu den Knöcheln reichte. Sie holte Trix und Jimmy von der Schule ab, machte die Besorgungen bei McGrath’s, und niemand sagte ein Wort. Miss Donoghue starrte sie einmal an, als schönes Wetter war.
»Siehst du die Dinge nicht gerne positiv, Shell?«, fragte sie zuvorkommend.
Shell runzelte verwirrt die Stirn.
Miss Donoghues entschlossene Hand griff nach einer Falte des wallenden Regenmantels und schüttelte sie. »Draußen ist kein einziger Regentropfen in Sicht, liebes Kind.«
»Oh.« Shell zuckte mit den Schultern. »Ach das. Der Wetterbericht war gar nicht gut, Miss Donoghue.«
»Nein?«
»Nein.«
Miss Donoghue wirkte nicht sehr überzeugt.
»Es ist ein Sturm im Anmarsch«, behauptete Shell. »Vom Atlantik.«
»Das ist ja das Neueste, was ich höre.«
»Es wurde im Radio angesagt, Miss Donoghue.« Und damit verließ sie, so schnell es ging, den Raum.
An einem anderen Tag hielt sie sich gerade in McGrath’s Laden auf. Sie hatte ein paar Münzen in der Tasche und wollte sich eine Kleinigkeit kaufen. Im vorderen Bereich mit den Verkaufstheken war niemand, die Tür zum hinteren Teil des Gebäudes war angelehnt. Dahinter waren Stimmen zu hören, Mrs McGrath, die über irgendetwas schimpfte, Mr McGrath, der sich verteidigte. Shell juckte es in den Fingern, eine Tüte Lakritzmischung zu klauen, die einen Penny mehr kostete, als sie hatte, doch sie hielt sich im Zaum. Die Tür öffnete sich und Mrs McGrath erschien an der Kasse, mit einem Gesicht wie ein Unwetter.
»Shell Talent«, sagte sie. »Du bist es nur. Ich dachte, ich hätte dieses Bimmelding gehört. Was suchst du denn?«
Shell zog den Regenmantel enger um sich. Es war
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