Ein reiner Schrei (German Edition)
vollkommen undenkbar, dass Mrs McGrath ihr auch nur einen einzigen Penny Preisnachlass gewährte.
»Nur das hier«, sagte sie und entschied sich für die billigeren Weingummis.
Sie bezahlte.
»Möchtest du vielleicht eine Tüte?«, erkundigte sich Mrs McGrath gespreizt.
»Nein, es geht schon.« Sie steckte die Packung mit den Weingummis in eine der Regenmanteltaschen.
Mrs McGrath starrte sie an. Ihre schlaffen Lippen verzogen sich, ihre kleinen Augen stachen wie Stecknadeln. »Wieso schleppst du diesen schweren Mantel mit dir rum?«
»Es ist starker Regen angesagt, Mrs McGrath«, sagte Shell.
Mrs McGrath glotzte. »Also bitte!«
»Ich geh lieber, bevor es anfängt.«
»Bevor was anfängt?«
»Der Regen, Mrs McGrath. Es kann jeden Moment losgehen.« Sie drängte zur Tür.
Mrs McGrath kam hinter der Ladentheke hervorgeschossen, als wollte sie sich auf sie stürzen. »Es ist ein herrlicher Tag, Shell. Keine Wolke weit und breit.«
Shell beeilte sich durch die Tür zu kommen und knallte sie mit einem ohrenbetäubenden Bimmeln hinter sich zu. Sie spürte den stechenden Stecknadelblick von Mrs McGrath, der sich zwischen ihre Schulterblätter bohrte, während sie die Straße hinunterschritt. Sie war noch nicht sehr weit gekommen, als es, wie die Einlösung einer Prophezeiung, zu regnen begann, obwohl immer noch die Sonne schien. Es goss wie aus Eimern, unglaubliche Wassermassen. Shell arbeitete sich den matschigen Hügel hinauf, kaute im Gehen ihre Weingummis, lauthals lachend, während ihr das Wasser über Hals und Haare rann.
Das wird dir eine Lehre sein, Mrs McGrath, dachte sie. Du alte Zicke!
Achtundzwanzig
Es wurde Dezember, neblig und kalt. Trix hängte den Adventskalender von vor zwei Jahren wieder auf, den Mum ihnen noch gekauft hatte. Shell hatte die Türchen mit Tesafilm wieder zugeklebt und jeden Morgen wechselten sich Trix und Jimmy ab, eins zu öffnen. Sie zählten die Tage bis Weihnachten.
»Sind alle Geschenke schon gekauft, Shell?«, fragte Trix.
Shell blinzelte. »Geschenke?«
»Letztes Jahr haben wir Schokoladengeld bekommen. Und Badezusatz.«
Shell erinnerte sich, wie Dad sie am Weihnachtsmorgen mit ein paar Geschenken in letzter Sekunde überrascht hatte. Es war völlig ausgeschlossen, dass er es in diesem Jahr wieder tun würde, seinen schicksalsschweren Blicken nach zu urteilen. Wenn irgendwelche Geschenke gekauft – oder gestohlen – werden sollten, dann musste Shell es tun.
»Der Weihnachtsmann wird euch sicher etwas bringen«, versprach sie.
»Pöh.« Trix schüttelte den Kopf. »Der Weihnachtsmann ist doch blöd.«
»Wer sagt das denn?«
»Jimmy. Er sagt, nur die Dummen glauben an den Weihnachtsmann. Oder an fliegende Rentiere. Oder an Gott.«
»Das sagt er?«
»Ja. Er sagt, das ist alles nur Erfindung.«
Shell betrachtete den Engel, der in dem einen Türchen des Adventskalenders hinter einer Wolke hervorspähte. Der Engel, der Weihnachtsmann und die Heilige Jungfrau Maria, sie alle schienen zu entschweben, in ein Märchenland.
»Stimmt das, Shell?« Trix blickte sie herausfordernd an.
Shell zwickte sie ins Kinn. »Ich weiß nicht, Trix. Ich weiß nur, dass nichts Falsches daran ist, dumm zu sein. Dumme Menschen haben manchmal Recht.«
Trix runzelte die Stirn und dachte nach. Dann streckte sie ihre Hand aus und berührte Shell am Bauch.
»Kriegen wir das zu Weihnachten, Shell? Unser Geheimnis? So wie bei Jesus?« Ihre Augen funkelten.
»Ich weiß nicht, Trix. Ich glaube nicht. Wahrscheinlich eher im Januar.«
»Im Januar?«
Shell nickte.
»Januar?« Trix wandte sich ab, ihre Lippen zitterten. »Das ist ja noch eine Ewigkeit hin.«
Shell streichelte sie im Nacken. »Pscht, Trix. Dann bringt der Weihnachtsmann dir eben etwas anderes, du wirst schon sehen.«
Jeden Morgen brachte sie Trix und Jimmy zur Schule, stieg mit ihnen den Acker hinauf, umrundete das Wäldchen und lief am Feld der Duggans entlang den Hang hinunter. Jimmy marschierte vorneweg, dann kam Trix und Shell ging als Letzte, die Arme um den gewaltigen Bauch geschlungen. Sie waren wie die Heiligen Drei Könige, nur ohne einen Stern, dem sie hätten folgen können. Bereits an der höchsten Stelle des Wäldchens bekam Shell kaum noch Luft und die Kälte verwandelte ihren schweren Atem in weiße Wolken. An der Abzweigung zum Dorf scheuchte sie die beiden weiter und ließ sie das letzte Stück allein gehen.
Dad blieb die meiste Zeit in Cork. Shells Eindruck war, dass er dort eine Freundin hatte. Als
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