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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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nicht erzählt.«
    Shell starrte ihn an.
    »Ich wollte dir keine Angst machen.«
    »Oh.« Shells Hände schossen erschrocken zu ihrem Hals hinauf, begannen zu zittern und wurden ganz kalt. »Die arme Kuh. Und sie hat das Kalb noch abgeleckt.« Ihre Zähne klapperten. »Und es war tot.«
    »Sie hat es nicht gemerkt, Shell. Sie hat nicht bemerkt, dass das Kalb tot war.«
    »Wahrscheinlich nicht. Die arme Kuh.«
    Shell nahm den Babykarton, setzte sich in den Sessel und wiegte ihn auf ihrem Schoß. Das Baby schlief immer noch.
    Sie starrte durch die Küche zum Fenster, wo das Sonnenlicht hereinfiel.
    Sie versuchte die Melodie zu summen, aber die Töne wollten einfach nicht heraus.
    In ihrem Herzen fiel ein schweres Tor ins Schloss.
    Sie zwang sich den Blick zu senken auf das, was dort auf ihrem Schoß lag.
    Das Baby war blau und steif. Es war tot.
    Sie fanden den Deckel und verschlossen den Pappkarton, bedeckten das kleine Kind. Shell versuchte zu weinen, doch ihre Augen waren wie ausgetrocknet. Jimmy nahm die blaue Schaufel und Trix die rote. Shell trug den winzigen Sarg in ihren Armen. Feierlich traten sie durch die Tür hinaus ins Freie. Sie, Jimmy und Trix waren wie eine Ehrenparade, die schweigend in Reih und Glied den Acker hinaufmarschierte. In der Mitte gruben sie ein Loch in die Erde. Der Boden war nach dem Regen weich und schwer. Es gab keine Steine. Jimmy legte den Karton auf den Grund der Grube und Shell schnitt sich eine Haarsträhne ab und legte sie zusammengerollt auf den Deckel aus Pappe. Trix fügte noch einen Stechpalmenzweig hinzu. Sie bekreuzigten sich gemeinsam. Dann füllten sie die Grube mit Erde auf und säumten sie mit einem Kreis aus runden Steinen von dem großen Steinhaufen.

Teil 3    Winter

Zweiunddreißig
    Zum Wochenende kehrte Dad aus Cork zurück.
    Schweigend aß er sein Abendbrot und setzte sich in seinen Sessel. Er sagte kein einziges Wort.
    Shell bemerkte, wie seine Blicke ihr folgten, während sie durchs Zimmer ging und die Sachen forträumte.
    »Und, Shell?«, sagte er.
    »Und was?«
    »Es geht dir doch gut, Shell, oder?«
    »Bestens, Dad.«
    »Deine Kopfschmerzen. Haben sie dich geplagt, während ich fort war?«
    »Ein bisschen. Aber jetzt sind sie weg, Dad. Ganz und gar weg.«
    Er nickte. »Gut.« Er erhob sich, durchmaß mit klimperndem Kleingeld in der Hosentasche den Raum und warf ihr einen seltsamen Blick zu, das eine Auge winzig und zusammengekniffen, das andere groß und rund. Ein paarmal sah es aus, als stünde er kurz davor, etwas zu sagen, dann aber besann er sich eines Besseren. »Gut, ich bin dann weg«, sagte er schließlich und verließ das Haus, obwohl der Pub unmöglich schon geöffnet haben konnte.
    Die Tage vergingen. Milch tropfte aus Shells Brüsten. Schwester Assumpta, die Nonne, die Mum unterrichtet hatte, hätte es wohl als Tränen der enttäuschten Milchdrüsen bezeichnet. Shell musste ihren BH die ganze Zeit mit Küchenpapier ausstopfen. Sie weinte nicht. Stattdessen baute sich in ihr eine Härte auf wie ewiges Eis. Die Kälte betäubte sie. Jede Minute erschien ihr wie eine Woche. Rosies kleine Hände, die hellen, kaum sichtbaren Venen unter ihrer Haut gingen ihr ständig durch den Kopf, aber es kamen keine Tränen. Morgens stellte sie sich vor den Steinkreis, blickte hinüber zum Wäldchen, in das wilde Geäst, und dachte an gar nichts.
    Dad blieb zu Hause. Vielleicht hatte sich die Sache mit der Großstadt und der Lippenstift-Dame erledigt. Shell kümmerte es nicht. Sie fuhr in die Stadt und schaffte es, bei Meehan’s einen Armreif für Trix und leuchtend grün-gelbe Fußballsocken für Jimmy zu stehlen. Der Verkäufer unterhielt sich gerade mit jemandem, der etwa einen Meter entfernt stand, und es war ihr vollkommen gleichgültig, ob sie erwischt wurde. Zum Schluss nahm sie noch einen Bogen Geschenkpapier mit, mattblau mit aufgeprägten Silberengeln, die Trompete spielten. Als sie nach Hause kam, packte sie die Geschenke ein und versteckte sie unter ihrem Bett. Dort fand sie das Körperbuch wieder, das inzwischen ganz eingestaubt war, sowie Mums rosafarbenes Kleid, sorgfältig zusammengefaltet. Sie zog das Körperbuch hervor und warf es in den Mülleimer; es kümmerte sie nicht, ob irgendwer es finden würde.
    Es ging auf die Ferien zu. Der Endspurt bis Weihnachten hatte begonnen. Mrs Duggan kehrte mit einem kleinen Jungen aus dem Krankenhaus nach Hause zurück. Er habe ein Loch im Herzen, hieß es, doch er würde überleben. Jimmy und Trix wollten

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