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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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glitschte um den Körper des Babys, ein langer, zurechtgestutzter Wurm.
    »Iiih«, sagte Trix. »Wie scheußlich.«
    Das eine Ende des Wurms mündete im Bauchnabel des Babys. Jimmy schnitt ein zweites Mal, um es abzutrennen. Das andere Ende baumelte zwischen Shells Beinen hervor. Jetzt erinnerte sie sich wieder, was es war – sie hatte es im Körperbuch gelesen: die Nabelschnur.
    Jimmy wischte weiter an dem Baby herum.
    »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Trix.
    »Ein Mädchen, du Dummbatz. Das sieht doch jeder Idiot.«
    »Ein Mädchen?«, keuchte Shell. »Reich sie mir rüber, Jimmy. Ich will sie halten.«
    Shell streckte die Hand aus und berührte das seltsame, fremdartige Wesen. Minuten verstrichen, schweigend und still.
    Irgendeine Pampe kitzelte ihre Oberschenkel. »Die Nachgeburt!«, brüllte Jimmy.
    Etwas Rotes, Schlabberiges, dunkel wie Leber, kam heraus. Shell kümmerte es nicht, sie bemerkte es kaum. Inzwischen hatte sie die Kleine bei sich, hielt sie wie ein rohes Ei, legte sie sich auf die Knie, lächelte. Das kleine Gesicht verschwamm vor ihren Augen, wurde wieder klar. Sie berührte das Köpfchen. Es war weich, wie die Schale eines Apfels. Winzige violette Venen zeichneten sich ab und es war kahl. Shells Herz hätte beinahe ausgesetzt, dann aber durchströmte sie ein Gefühl der Wärme. Rosie, flüsterte sie. Meine geliebte Rosie. Sie berührte die kleine Nase. Bist du es wirklich? Habe ich das zu Stande gebracht? Sie begann Mums Lieblingslied zu summen. Gottes Liebe, komm zur Erden, sei uns demutsvoller Hort. Süß und zerknittert lag das kleine Baby schlafend in ihren Armen. Es gab keinen Laut von sich.

Einunddreißig
    Jimmy und Trix versuchten das Kind wegzutragen, aber Shell ließ es nicht zu. Sie nahm die Kleine mit ins Bett und sang ihr das Kirchenlied vor, wickelte sie in ein weiches Flanelltuch und legte sie neben sich auf ein Kissen.
    Sie musste wohl eingeschlafen sein.
    Am nächsten Morgen erwachte sie spät. Panisch suchte sie nach dem Baby. Es war noch immer dort, wo sie es hingelegt hatte, auf die Seite gerollt, durch das Kissen an Shells Schulter gedrückt, das Köpfchen ruhte in Shells Achselhöhle. Sie nahm die Kleine hoch und sang ihr noch ein wenig vor. Langsam stand sie auf. Ein Schmerz strahlte vom Bauch bis hinab in ihre Knie. Sie humpelte aus dem Zimmer in die Küche und schaffte es bis ins Bad. Dort ließ sie erneut Wasser in die Wanne. Sie stieg hinein, samt dem Baby, schöpfte Wasser und ließ es über die kleine runzelige Stirn laufen. Ich taufe dich Rose, sagte sie. Das Kind war eiskalt, wie sehr sie auch versuchte es zu wärmen. Milch tropfte aus ihren Brustwarzen, doch das Baby war zu müde, um zu trinken.
    Shell stieg aus der Wanne und wickelte sie mit einem Handtuch schön warm ein. Sie bettete sie in Trix’ Pappkarton, auf der weichen Watteunterlage. Sie legte ein paar saubere Socken zusammen, um den empfindlichen Kopf zu stützen. Dann machte sie das Frühstück.
    Trix und Jimmy wurden wach. Sie hätten längst in der Schule sein müssen, aber Shell schimpfte nicht mit ihnen.
    »Ihr könnt heute zu Hause bleiben«, sagte sie. »Nur für heute.«
    Sie zog die Vorhänge beiseite und stellte den Krimskrams wieder zurück an seinen Platz. Sie summte das Kirchenlied. Sei uns demutsvoller Hort. Lass es eitel Freude werden … Das Morgenlicht fiel herein. Schnelle Wolken jagten am Himmel entlang. Eine matte Sonne schleppte sich tief über dem Acker dahin. »Schönes Wetter heute«, sagte Shell. Sie ging hinüber zu dem Baby, berührte seine Wange und lächelte.
    »Rosie«, murmelte sie.
    »So heißt sie also?«, sagte Trix.
    Shell nickte. »Gefällt sie dir?«
    »Hübsch ist sie.« Trix’ Lippen zitterten. »Sehr hübsch, Shell.«
    »Was hast du denn, Trix? Was gibt es denn da zu weinen?«
    Trix schwieg, fing aber lauthals zu heulen an. Die Tränen strömten ihr nur so über das Gesicht.
    »Du machst dir Sorgen, was Dad wohl sagen wird … Wenn er zurückkommt?«
    Trix schüttelte den Kopf. Dann nickte sie.
    »Keine Angst. Wir überlegen uns schon was. Vielleicht macht es ihm auch gar nichts aus.« Shell summte weiter.
    Jimmy warf seinen Löffel hin.
    »Shell«, sagte er.
    »Ja?«
    »Weißt du noch, die Kuh von Mr Duggan?«
    »Himmelherrgott. Hör doch endlich auf von dieser Kuh zu faseln.«
    »Die, von der ich dir erzählt habe. Bei der das Kalb zu früh kam.«
    »Was ist damit?«
    »Es kam tot heraus.«
    »Tot?«
    Jimmy nickte. »Ich hab’s dir vorher

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