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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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unbedingt hingehen, um ihn zu sehen, aber Shell wollte nichts davon hören. Heiligabend gab sie ihren Bitten schließlich nach und ließ sie gehen. Sie selbst blieb zu Hause, um das Abendessen zu kochen.
    Als die beiden fort waren, klopfte es an der Tür. Shell und Dad hatten sich gerade zum Essen hingesetzt. Dad knurrte, stand aber auf, um nachzusehen, wer es war.
    Er kam in die Küche zurück und hinter ihm betrat Sergeant Liskard von der städtischen Polizeistation den Raum.
    Shell erstarrte. Die Socken und der Armreif. Wie sind sie mir nur auf die Schliche gekommen? Wie?
    Der Sergeant blieb am Fenster stehen. Die Spitze seines Stiefels malte Schnörkel auf den Küchenfußboden. Er hatte die Stirn in Falten gelegt.
    »Na, Tom. Was gibt es Neues?«, fragte Dad. »Sammelst du für Weihnachten oder was führt dich her?«
    »Das nicht«, erwiderte der Sergeant. Er biss sich auf die Lippen und atmete geräuschvoll aus. »Wir haben ein Baby gefunden, Joe.«
    »Ein Baby?«
    Der Sergeant nickte. »Ein Baby.«
    Shell starrte ihn an und griff sich unwillkürlich an den Hals. Auch an diesem Morgen war sie auf dem Acker gewesen, so wie immer. Die Steine lagen nach wie vor im Kreis, genau wie sie sie hingelegt hatten. Nichts war zerstört gewesen.
    »Ein Baby?«, flüsterte sie.
    Der Sergeant nickte. »Drüben auf der Ziegeninsel. Am Strand.«
    »Am Strand?«, wiederholte Shell.
    »In der Höhle da drüben. Kennst du sie?«
    Shell nickte.
    »Man hat das Baby dort ausgesetzt.«
    »In der Höhle?«
    »Dem Kleinen von Mrs Duggan geht es gut. Das habe ich gerade kontrolliert«, sagte der Sergeant.
    Sie standen in der kleinen Küche, abwartend, was als Nächstes geschehen würde. Die Welt unter Shells Füßen begann einzubrechen.
    »Ein Baby«, wiederholte sie.
    »Ja«, sagte der Sergeant. »Und das Baby ist … tot.«
    Das Wort war wie ein Dolch. Es tat so weh, dass ihr die Tränen kamen. Die kleinen Finger und der Schmollmund mit den blauen Lippen. Die gellende Stille des Schreis, der niemals kam. »Tot«, schluchzte sie. »Tot?«
    »Ich fürchte, ja.«
    Dads Hand legte sich schwer auf ihren Arm. »Reiß dich zusammen, Shell.«
    »Mir bleibt nichts anderes übrig, Joe«, fuhr der Sergeant fort. »Es tut mir leid, aber ich habe meine Anweisungen. Ich soll euch beide zur Wache bringen, für ein Verhör.«
    Shell schaute Dad an. Er blickte an ihr vorbei, starrte auf das Klavier, wie erstarrt, als sähe er jemanden oder etwas direkt auf sich zukommen. Er schüttelte den Kopf und fuhr zusammen. »Was hast du gesagt, Tom?«
    »Ihr müsst mitkommen.«
    »Wohin?«
    »Zur Wache, Joe, zum Verhör. Es tut mir leid.«
    »In Ordnung. Ich hole nur die Mäntel.«
    Shell zitterte, ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Tot. Dad legte ihr einen Mantel um die Schultern. Seine Hand bohrte sich in ihr Kreuz und dirigierte sie Richtung Tür. Sein Daumen und die Finger drückten mit aller Kraft zu. Tot. Seine Stimme klang ihr im Ohr, zischende Silben, rasch und leise.
    »Sag kein Wort, verstanden, Shell? Sag … bloß … kein … Wort!«
    Shell nickte und nickte und konnte gar nicht mehr aufhören. Tot. Sie nickte immer noch, als Dad ihr die hintere Wagentür des Sergeants öffnete und selbst auf der anderen Seite einstieg. Sie bemühte sich nicht, die Tränen fortzuwischen. Die Felder von Coolbar flogen vorbei, endlose Hecken drängten sich von beiden Seiten heran. Sie wusste nicht, wo man sie hinbrachte. Das Einzige, was sie hörte, war das Wort tot , das ihr im Kopf dröhnte, wieder und wieder, wie ein Angelusgeläut.

Dreiunddreißig
    Sag kein Wort.
    Man hatte sie in einen Raum gesteckt, dort sollte sie warten.
    Von draußen klopfte ein kahler Baum an die Fensterscheibe. Es regnete ununterbrochen. Sag bloß kein Wort!
    Sie hatte nichts gesagt. Die Fragen brausten ihr in den Ohren, erst laut, dann leise, wie Wellen. Sie befand sich unter Wasser. Die Töne wurden immer wieder verschluckt. Die Frau mit der Stachelfrisur war gegangen. Vorher hatte sie mit ihr gesprochen, ihr zwischendurch immer wieder Taschentücher gereicht. Was auch immer die Frau gesagt hatte, Shell hatte nichts davon gehört. Das Baby am Strand. Das Baby in der Höhle. Das Baby auf dem Acker. Tot, alle tot. Sag überhaupt nichts.
    Sie hatten Dad weggebracht, in einen anderen Raum.
    Shell stand auf und ging zum Fenster, um den tanzenden Zweigen zuzusehen. Unterhalb von ihr wucherten die Schornsteine und Antennen von Castlerock, erstreckten sich in mehreren Lagen den

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