Ein reiner Schrei (German Edition)
sich seine Mundwinkel ein wenig. Die Haut rings um seine Augen war hart und glatt.
Sie schüttelte den Kopf. Nein, von Ihnen nicht.
»Du hattest ein Baby, nicht wahr, Michelle?«
Sie zuckte zusammen. Das Wort Baby hörte sich seltsam an aus seinem Mund, als hätte man es seiner kleinen wunderbaren Anmut beraubt. Sie schluckte und senkte den Blick.
Molloy beklopfte die Akte. »Es steht hier drin. Wort für Wort. Dein Vater hat uns alles erzählt.«
Dad? Alles? Also hatte er es die ganze Zeit gewusst? Sie dachte an sein Verhalten in den vergangenen Wochen, wie er sie angestarrt, dann zu Boden geblickt hatte, die Stirn in Falten, sich wie in Trance bewegt hatte.
»Seine Aussage wird gerade getippt, während wir uns hier unterhalten«, fuhr Molloy fort. »Und weißt du, was dann daraus wird, Michelle?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es werden Tatsachen draus. Beweisbare, nicht zu leugnende Tatsachen.« Er zündete sich seine Zigarette an und stieß den Rauch aus, blies drei wabernde Rauchringe quer über den Tisch. Sie blieben zwischen ihnen in der Luft hängen, stiegen nach oben, blähten sich auf und gingen dabei auseinander. »Tatsachen sind etwas Komisches, Michelle«, sagte er nachdenklich. »Es gibt Tratsch, Gerüchte, Verdächtigungen. Und dann gibt es Tatsachen. Und um die kümmern wir uns hier. Wir sind die Garda Síochána, Irlands unbewaffnete Polizei, und unsere Aufgabe ist es, Sachverhalte aufzudecken. Wenn man uns belügt – oder uns Tatsachen verschweigt, weißt du, was dann passiert?«
»Nein«, flüsterte Shell.
»Man kommt ins Gefängnis, Michelle.«
»Ins Gefängnis?«
»So ist es. Ohne Wenn und Aber. Cochran, reichen Sie mir mal den Aschenbecher.«
Die Frau griff hinauf ins Regal und holte einen mit Zigarettenstummeln randvoll gefüllten Aschenbecher aus Zinn herunter. Molloy schnippte seine Asche hinein.
»Also, heraus damit, Michelle. Sag einfach Ja. Oder nicke. Du hattest ein Baby, nicht wahr?«
Shell nickte. Ihre Augen wurden feucht. Sie gab sich alle Mühe, die Tränen hinunterzuschlucken, doch sie ließen sich einfach nicht aufhalten.
»Miss Talent nickt«, sprach Molloy auf das Band. »Einen Wonneproppen«, sagte er, als wollte er ausprobieren, welche Wörter ihm noch so einfielen. Die beiden p kollidierten, hart und brutal. »Einen Wonneproppen, den du nicht haben wolltest. Ist es nicht so?«
Ebenso gut hätte er ein Messer ziehen können. Nicht. Haben. Wolltest. Drei Stichwunden, zwischen die Rippen. Shell dachte daran, wie sie sich stattdessen gewünscht hatte unter Amenorrhö zu leiden. Dann, wie sie sich überlegt hatte das Boot nach England zu nehmen, um dort abzutreiben. Dann an die schwarze Mülltüte, die grauweiße Schnur, das schmierige Zeug und wie Jimmy es abgewischt hatte, bis darunter die leuchtend blauen Augen und das Näschen zum Vorschein gekommen waren, die winzigen Hände und blauen Äderchen.
Sie schüttelte den Kopf.
»Miss Talent schüttelt den Kopf. Du gibst also zu, dass du es nicht haben wolltest?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie begann auf ihrem Stuhl vor und zurück zu schaukeln. Bleiern legte die Luft des Raumes sich auf ihre Lungen. Sie schaukelte heftiger. Das Geflecht der kleinen Adern, der glatte, kühle Kopf, haarlos, hilflos.
»Sag es, Michelle. Sag es. Du wolltest es nicht haben, richtig?«
Der Rauch wehte ihr ins Gesicht. Die Worte sickerten in ihr Hirn, verhöhnten sie. Sie schaukelte, erschauerte. Die Spule des Rekorders knirschte.
»Du brauchst es nur zu sagen. Dann lassen wir dich in Ruhe.«
Shell schloss die Augen. Sie war Petrus vor dem Tribunal. Der Hahn würde jeden Moment krähen. Er stand kurz davor, Jesus zu verraten. Wenn der Hahn doch nur krähte, bevor sie etwas sagte, dann würde sie die Verhandlung überstehen. Dann würde die Prophezeiung nicht eintreten. SAG ES, SAG ES. Sag kein Wort, Shell. Molloys und Dads Worte, im Nahkampf. Sie keuchte, die Handflächen gegen die Ohren gepresst. Es war schlimmer, als zu gebären.
»Sagen Sie es, Miss Talent. Danach werden Sie sich besser fühlen. So ist das bei jedem.«
Sie öffnete die Augen. Die Stimmen, die sich gegenseitig zu übertönen versuchten, brüllten in ihrem Kopf, aber sie gehorchte ihnen nicht. Sie redete. Nicht die Worte, die der Mann hören wollte, sondern ihre eigenen. Worte, die sie fast umbrachten, sie zerfetzten, aber sie sagte sie. »Ich habe mein Baby geliebt«, schluchzte sie. »Geliebt hab ich sie. Geliebt.«
Die Worte donnerten durch den Raum
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