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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Hang hinunter bis ans trübe Meer. Sie schlang die Arme um sich, griff sich an die Ellbogen, dachte an den mit Watte ausgepolsterten Karton und begann zu singen:
Der Stechpalmzweig trägt eine Beere,
die ist so rot wie Blut …
    Der Arzt, vor dem man sie gewarnt hatte, unterbrach sie. Er eilte atemlos herein, fast schon kahl, mit geröteten Wangen. Seine Fragen waren wie ein Sperrfeuer. Sie nickte bejahend, schüttelte verneinend den Kopf oder zuckte mit den Schultern, wenn sie keine Antwort wusste. Dann untersuchte er sie von Kopf bis Fuß.
    Zehn Minuten später ging er wieder und sagte, das sei dann alles, mehr sagte er nicht.
    Sie wurde abgeholt und in ein anderes Zimmer gebracht. Es ging ein hallendes Treppenhaus hinunter, einen Korridor entlang, durch eine Tür, die letzte links. Dieser Raum war kleiner, an den Wänden blätterte gelbe Farbe ab. Die Fensterscheibe war aus Milchglas, so dass man nicht hindurchsehen konnte.
    Die Frau mit der Stachelfrisur trat ein und stellte sich als Sergeant Cochran vor. Sie bot Shell einen Stuhl auf der einen Seite des Tisches an, sie selbst nahm auf der anderen Platz. Neben ihr war noch ein dritter Stuhl frei, der leer blieb. Sie warteten.
    »Du kannst mir alles erzählen, Michelle«, brach die Frau schließlich das Schweigen. »Du kannst mir davon erzählen. Wenn du möchtest.«
    Shell hob den Kopf. Meinte sie etwa mich?
    »Ja, Michelle. Du kannst mir vertrauen.«
    Sag kein Wort. Shell versuchte zu sprechen, doch die Worte waren wie Steine, die ihr in der Kehle steckten. Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn.
    »Also Schweigen?«
    Shell nickte, Schweigen.
    »Das ist dein gutes Recht.« Die Stachelige lächelte. Das Wort Recht schien auf dem Tisch zu liegen wie eine ausgespielte Karte, die zu ihnen hinaufäugte. Minuten vergingen.
    Die Tür öffnete sich. Ein Mann kam herein. Er hielt inne, die Hand auf der Klinke. Shell hörte, wie seine Zunge gegen die Zähne schnalzte, klick-tschick-tick.
    »Das ist sie?«, sagte er gedehnt. Shell starrte ihn an. Er schaute zur Seite, als würde er schielen oder als wäre ihr Gesicht einfach zu hässlich, um es anzusehen. Er trug einen grauen Anzug und ein makellos weißes Hemd. Und er strahlte eine Unruhe aus, als wäre in dem Raum nicht genügend Platz für ihn vorhanden. Sein Haar war rotblond, glatt und zurückgegelt. Die struppigen Augenbrauen waren das Einzige an ihm, was nicht gepflegt wirkte.
    »Jawohl, Sir«, sagte die Frau und setzte sich kerzengerade auf. »Das hier ist Michelle. Michelle Talent.«
    »Mit dem Vater bin ich gerade fertig. Seine Aussage wird noch getippt.«
    Sergeant Cochran nickte. »Sie ist erst sechzehn, müssen Sie wissen.«
    »Und das medizinische Gutachten?«
    »Ist erledigt.«
    »Das weiß ich. Aber war es schlüssig?«
    »Ja, Sir.«
    »Gut. Dann sind wir ja fast fertig.«
    Die Frau zuckte mit den Schultern.
    Mit großen Schritten betrat er den Raum und ließ eine dicke Akte auf den Tisch fallen, genau auf die Stelle, wo in Shells Fantasie die Karte mit dem Wort Recht gelegen hatte. Er setzte sich und begann mit den Fingerspitzen auf die Akte einzutrommeln. »Großartig«, sagte er. »Dann mal los. Schneiden Sie mit.«
    Die Frau griff nach oben in ein Regal und schaltete den Kassettenrekorder ein. Shell hörte das leise Quietschen des Bandes, das von einer Spule auf die andere lief. Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wartete. Dann räusperte er sich und nannte Zeit, Datum und Ort. Schließlich seinen Namen: Superintendent Dermot Molloy. Wieder begannen seine Finger zu klopfen.
    »Und nun dein Name«, sagte er. »Kannst du ihn bestätigen? Nur für die Aufnahme?«
    Shell hob den Kopf und sah ihn an. Seine Augen waren wie Rasierklingen. Sie wandte den Blick ab und nickte.
    »Kannst du es lauter sagen?«
    Shell zog an den Flusen ihres alten Pullovers.
    »Wie bitte, ich hab’s nicht mitgekriegt.«
    Seine Worte schwirrten ihr durch den Kopf, auf der Jagd nach ihren Gedanken.
    »Ich bin Michelle«, flüsterte sie. »Wie Sie gesagt haben.«
    »Gut.« Er kramte etwas aus seiner Tasche: eine Schachtel Zigaretten, mit der er kurz auf die Akte klopfte, dann öffnete er sie.
    »Was dagegen, wenn ich rauche, Michelle?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Möchtest du vielleicht auch eine?« Er hielt ihr die Schachtel hin und bot ihr eine an. »Ich war jünger als du, als ich anfing. Molloy heiße ich, Michelle. Nenn mich einfach nur Molloy.«
    Sie sah ihn wieder an. Er lächelte. Oder zumindest hoben

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