Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
Vom Netzwerk:
wie umstürzende Stühle. Sie lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch, beide Arme von sich gestreckt. Die Akte wurde unter ihr hervorgezogen, der Rekorder ausgeschaltet.
    Irgendwo in einer anderen Welt fiel eine Tür zu.

Vierunddreißig
    Später.
    Molloy und Cochran unterhielten sich flüsternd.
    Shell war draußen auf dem Acker beim Steinkreis gewesen. Nun befand sie sich wieder in dem Raum mit dem Milchglasfenster. Sie hörte den Regen, der gegen die Scheibe schlug, und das Murmeln des Mannes und der Frau, die an der Tür standen. Sie hob ihren Kopf nicht von der Tischplatte. Die beiden merkten nicht, dass sie alles mitbekam.
    Sie lauschte.
    »Sie ist völlig durcheinander, Sir.«
    »Nein. Ich denke, ich durchschaue sie, Cochran.«
    »Inwiefern?«
    »Sie wollte ein Mädchen, ganz klar.«
    »Sie meinen …?«
    »Sie hat eine Abwehrhaltung. Es wurde ein Junge und sie konnte es nicht ertragen.«
    »Aber …«
    »Also bringt sie das Kind um. Ich wusste es. Von Anfang an.« Molloys Stimme, leise, abgehackt.
    »Was wussten Sie, Sir?«
    »Dass sie es war. Der Vater lügt.«
    »Lügt?«
    »Er lügt, um sie zu schützen. So was merke ich immer.«
    Sie sprechen über mich.
    Shell hob den Kopf. Der Mann und die Frau schauten zu ihr herüber.
    »Michelle«, sagte die Frau. »Kann ich dir irgendetwas bringen? Eine Tasse Tee? Wasser?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Möchtest du deinen Vater sehen?«
    »Nein.« In dem winzigen Raum wirkte ihre Stimme laut. Dad war der Letzte, den sie zu sehen wünschte. »Nein«, wiederholte sie leiser. »Es geht schon.«
    »Gut.«
    »Ich möchte eine Aussage machen.« Sie nickte der Frau zu.
    »Wirklich?«
    »Ja. Ich möchte Ihnen gegenüber eine Aussage machen.«
    Die Nasenflügel des Mannes bebten, seine Lippen zuckten von Shell hinüber zu seiner Kollegin. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich gebe Ihnen zwanzig Minuten. Die Sache soll heute noch unter Dach und Fach.«
    Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
    »Bist du sicher, dass du reden möchtest, Michelle?«, fragte Sergeant Cochran.
    »Ja.«
    »Und du willst die Wahrheit sagen?«
    Shell nickte. »Die Wahrheit.«
    Sergeant Cochran schaltete den Kassettenrekorder wieder ein und sprach die Namen, den Ort und die Zeit aufs Band.
    Das geisterhafte Rauschen erfüllte den Raum.
    Draußen pfiff der Wind um das Gebäude.
    Shell fing an zu reden.
    Sie begann mit dem Körperbuch und wie sie es aus dem Bibliotheksbus gestohlen hatte. Die Sätze kamen, einer nach dem anderen. Als würde sie ein Manuskript vorlesen, das sie auswendig gelernt hatte. Teilnahmslos und leise, ohne jeden Kommentar. Es hätte eine andere Zeit sein können, ein anderer Ort, eine andere Person: die Geschichte einer Fremden. Lediglich an der Stelle, als Jimmy die grauweiße Schnur durchtrennte, musste sie weinen. Shell fiel wieder ein, was in dem Körperbuch gestanden hatte: dass man die Nabelschnur zuvor an zwei Stellen abklemmen musste, ehe man sie in der Mitte durchschnitt. Das hatte sie vergessen ihm zu sagen. War das der Fehler? Ist das Baby deswegen gestorben? Oder war es schon vorher tot? Zum Schluss berichtete sie von dem Steinkreis auf dem Acker hinterm Haus.
    Sergeant Cochran unterbrach sie nicht. Nachdem Shell geendet hatte, war das geisterhafte Rauschen wieder in dem Zimmer zu hören und das Heulen des Windes kehrte zurück.
    »Ich habe nur noch ein paar Fragen, Michelle«, sagte Sergeant Cochran nach einer Weile. »Meinst du, dass du sie beantworten kannst?«
    Shell nickte.
    »Wo befand sich dein Vater in dieser ganzen Zeit?«
    »Soweit ich weiß, in Cork.«
    »In Cork?«
    »Unter der Woche fährt er immer dorthin, um zu sammeln.«
    »Um zu sammeln?«
    »Spendengelder.«
    »Verstehe.« Die Frau wirkte verdutzt. Sie verstand überhaupt nichts. »Soll das heißen, dass er gar nicht da war?«
    »Nein, Miss. Er war nicht da. Ich hab’s ihm nicht erzählt. Wir waren nur zu dritt, Jimmy, Trix und ich.«
    »Und ihr habt das Baby auf dem Acker begraben?«
    »Ja. In der Mitte. Auf dem Acker hinter unserem Haus.«
    »Wie ist das Baby dann in die Höhle gekommen, Shell? In die Höhle drüben auf der Ziegeninsel?«
    Shell hob den Kopf. »Die Höhle?«, wiederholte sie.
    »Ganz recht. Du sagtest doch, dass du sie kennst?«
    Shell nickte. Haggertys Höllenloch. Die Abdeckerei. Sie erschauerte. Wir fesselten sie und überließen sie der Willkür der Wellen.
    »Wie ist es dort hingekommen? Hast du es dort hingelegt?«
    »Nein. Soweit ich weiß, liegt das

Weitere Kostenlose Bücher