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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Baby immer noch im Feld. Es sei denn …«
    »Es sei denn?«
    Sie stockte. »Es sei denn, jemand hat es ausgegraben. Und dann die Steine wieder zurückgelegt. Und die Erde. So wie es vorher war.« Shell merkte, wie der Tisch ins Schlingern geriet, die Astlöcher in der hölzernen Tischplatte begannen sich zu drehen. Sie schloss die Augen und schluckte. Aber wer würde so etwas denn tun? Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Augen wieder. Jimmy nicht. Trix auch nicht. Nein.
    »Das ist also deine Geschichte?«
    Shell nickte.
    »Eine letzte Frage, Michelle.« Die Frau faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich nach vorn. »Wer war der Vater des Kindes?«
    Eine Schraubzwinge legte sich um Shells Hals. Declan, der in den Nachtklubs von Manhattan trank. Der bis zum Morgengrauen die Zeit totschlug, indem er ein Bier nach dem anderen kippte. Du bist eine Klasse für sich, hatte er gesagt, mit lachenden Augen. Der Gerstenhalm strich ihr, wisch, über den Bauch, im nächsten Moment sah sie Declan vor sich, wie er mit dem Gesicht nach unten in einem Kuhfladen lag.
    Sergeant Cochran wartete. Es ging sie einfach nichts an.
    »Niemand«, antwortete Shell.
    »Niemand?«
    Shell schüttelte den Kopf.
    »Das ist nicht möglich, Michelle. Heutzutage gibt es keine jungfräulichen Geburten mehr. Meines Wissens jedenfalls nicht.«
    »Niemand Wichtiges.«
    »Ist das alles, was du zu sagen hast?«
    Shell nickte. »Ja.«
    Sergeant Cochran schaltete seufzend den Kassettenrekorder ab. Sie lehnte sich zurück und deutete mit der Hand zu dem Gerät hinüber. »Ist das die Wahrheit, Michelle?«
    »Die Wahrheit?« Shell lächelte und dachte an ein Lied aus Mums Gesangbuch für die Weihnachtszeit:
Dies ist die Wahrheit uns’res Herrn,
der Liebe kündet nah und fern.
Drum weise mir nicht deine Tür,
denn seine Botschaft gilt auch dir.
    Eine süße Traurigkeit schwang in den Tönen mit und Mums Augen schauten sie aus der Ferne an, als sie die Melodie sang. Sie blickte aus dem Fenster, über die Felder, und mit ihrer Stimme war das ganze Haus plötzlich erfüllt von Weihnachten. Vielleicht hatte Molloy ja Recht gehabt. Man fühlte sich tatsächlich besser, wenn alles ausgesprochen war.
    »Ja«, sagte sie. »Es ist die Wahrheit.«
    Sergeant Cochran legte die Hände auf den Tisch und rieb sich die Knöchel. Ihre Augen unter dem senkrecht abstehenden Haar wirkten kühl und traurig. »Das behauptest du«, seufzte sie. »Weißt du, was Superintendent Molloy dazu sagen wird?«
    »Nein.«
    »Er wird sagen: Es widerspricht den Tatsachen.«

Fünfunddreißig
    Die Tür öffnete sich. Der Tatsachenmann kam wieder herein und wedelte mit einem getippten Text.
    »Das ist die Aussage Ihres Vaters«, sagte Molloy, während seine Augen sie durchbohrten. Er faltete das Blatt in der Mitte und steckte es in die Tasche seines Jacketts.
    Sergeant Cochran beugte sich vor und flüsterte ihm etwas zu.
    Shell stand auf und wandte sich ab. Niemand hinderte sie. Sie trat an das Milchglasfenster, fuhr mit der Hand über die geriffelte Oberfläche, stellte sich den sturmgeplagten Tag dahinter vor.
    Das Geflüster hielt an, heftig und eindringlich. Sie hörte, wie das Band zurückgespult wurde, das Geisterrauschen begann von neuem, dann kamen ihre eigenen Worte, schwach und gespenstisch, höher, als sie sich den Klang ihrer Stimme vorgestellt hatte. Schrill und dünn war sie, wie ein Strohhalm, den die leichteste Brise fortwehen konnte. Shell hätte am liebsten die Ohren abgeschaltet, doch in diesem winzigen Raum gab es kein Entrinnen.
    »Kommen Sie bitte wieder her, Miss Talent.« Molloys Stimme bohrte sich in sie wie ein Metallhaken.
    Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, hob langsam den Kopf und sah ihn an. Sein Mund stand offen, wie eingefroren, die Oberlippe nach links verzogen, so dass ein großer Schneidezahn zu sehen war und eine schmale Zungenspitze. Shell wandte den Blick ab.
    »Blödsinn«, sagte er. Seine Faust sauste auf die Tischplatte nieder. »Kompletter Blödsinn, das ist es doch?«
    Shell schnappte erschrocken nach Luft.
    »Was? Oder etwa nicht?«
    Sie atmete aus. »Nein.« Aber sie sagte es so leise, dass er es nicht hörte.
    »Sie erwarten doch nicht etwa, dass ich diesen Mist glaube?«
    Shell kniff die Augen zu.
    »Babys, die mit der Hilfe von kleinen Brüdern entbunden werden? Kleine Schwestern, die Kinderbettchen aus alten Kartons basteln? Babys, die auf dem Acker begraben werden? Miss Talent. Sie wissen es und ich weiß es. Das sind

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