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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Ammenmärchen.« Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Eine Eins, Miss Talent, für Ihre Fantasie. Eine Sechs, Miss Talent, für den Wahrheitsgehalt.«
    Molloy lehnte sich zurück. Klick-tschick-tick machte seine Zunge, dann gab er ein gedehntes Stöhnen von sich. Sergeant Cochran saß neben ihm, befand sich nun aber am Rande des Geschehens und spielte keine Rolle mehr.
    »Die Tatsachen, Miss Talent. Ich will die Tatsachen.« Seine Fingernägel klickerten auf der Tischplatte, wie auf der Tastatur eines Akkordeons. Er zog das schriftliche Protokoll wieder aus der Brusttasche seines Jacketts, faltete es behutsam auseinander und strich es auf dem Tisch glatt. Eine Minute verging. Molloy saß reglos da. »Ich bin kein besonders geduldiger Mensch«, zischte er flüsternd, wie auf dem Beichtstuhl. »Sergeant Cochran hier wird das bestätigen. Sie wachen jetzt besser auf, junge Dame, wenn Sie nicht wollen, dass ich völlig die Beherrschung verliere. Denn das ist dann kein schöner Anblick, nicht wahr, Sergeant Cochran?«
    Seine Stimme wurde lauter.
    »Ich habe hier drei Versionen der Ereignisse. Als Erstes habe ich klare Beweise: das in der Höhle aufgefundene Baby samt dem medizinischen Gutachten des Arztes bezüglich der Todesursache. Zweites habe ich …«, er tippte auf das Protokoll, »die Version, die Ihr Vater uns erzählt hat. Und drittens habe ich diese …«, seine Hand streifte den Rekorder, »… Ihre Geschichte. Hören Sie zu, Michelle. Version Nummer eins ist wahr und von niemandem anzuzweifeln. Heute Morgen wurde von einer Frau, die mit ihrem Hund am Strand spazieren ging, ein toter Säugling gefunden. Der Hund schnüffelte in der Höhle herum und kam nicht, als die Frau ihn rief. Also ging sie hinein und fand – in einer Babytragetasche, spärlich bekleidet – den Säugling. Mausetot, erfroren. Sie verständigte die Garda. Als wir dort hinkamen, konnten wir ihren Fund bestätigen. Der Gerichtsmediziner arbeitet noch an seinem Bericht. Aber er hat nicht den geringsten Zweifel, dass dieses Kind vor kurzem geboren wurde, dass eine unbekannte Person es in die Höhle verbrachte und dann grausam sich selbst überließ, bis es starb. Brutal und in voller Absicht den Elementen ausgesetzt. Wissen Sie, was Aussetzen bedeutet, Miss Talent?«
    »Nein«, flüsterte Shell.
    »Wie ich höre, hat man es im alten Rom getan. Und in China. Und wer weiß, wo noch. Aussetzen ist eine Methode, ein Kind zu töten, ebenso sicher, als würde man ihm den Schädel einschlagen. Oder es mit einem Kissen ersticken. Oder ihm ein Messer ins Herz stoßen. Aber ein Kind auszusetzen, Michelle, ist die feige Art, es umzubringen. Der Täter denkt vielleicht, es sei weniger schlimm, als selbst zu töten. Die Kälte wird das für mich erledigen, denkt er, und ich habe ein reines Gewissen. Aber das Kind, Michelle. Versetzen Sie sich in seine Lage. Es leidet mehr. Stellen Sie sich vor, wie dieses kleine Baby sich gefühlt haben muss, allein in dieser fremden, feuchten Höhle. Mit dem Geräusch der Gezeiten, dem Wasserpegel, der draußen anstieg und zurückging. Die Kälte in seinen Fingern. Stellen Sie sich vor, wie es geschrien haben muss, Miss Talent, so laut, wie seine kleinen Lungen es zuließen. Aber vergeblich. Denken Sie daran, Miss Talent. Und dann sagen Sie mir die Wahrheit.«
    Shell saß in ihrem Stuhl, die Kehle zugeschnürt, wie hypnotisiert. Haggertys Höllenloch. Die unebenen schwarzen Wände. Kalter Sand und kalte Steine. Das Stöhnen des Windes in den versteckten Felsspalten. Der kleine weiße Körper, zappelnd, um wieder warm zu werden. Ein furchtbarer Ort zum Sterben. Stimmen, laut und wahnsinnig, klangen ihr im Ohr. Sie sangen ein altes Weihnachtslied: Der Mond schien hell in jener Nacht, doch draußen war es bitterkalt …
    »Ganz recht, Michelle. Langsam kommen Sie zur Besinnung, nicht wahr?«
    Sie konnte seine Gedanken spüren, wie sie in ihrem Kopf umherjagten, in ständiger Bewegung, rastlos, wie sie schmerzten. Er wollte sie dazu bringen zu gestehen. Warum es nicht einfach sagen? Was machte es für einen Unterschied? Ihr Baby war tot, ihr Inneres war tot, alles war tot.
    »Mr Molloy«, sagte sie und schluckte.
    Er beugte sich eifrig nach vorn. »Ja, Michelle?«, ermunterte er sie.
    »Mr Molloy«, wiederholte sie. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. »Ich habe es nicht getan.«
    Er tat, als hätte sie nichts gesagt. »War es das Schreien, das Sie nicht ertragen konnten?«, fuhr er fort. »War es das,

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