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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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gewesen war, von einem Mann, der immer auf seinen Vorteil bedacht war, einer wie Declan vielleicht. Ein aalglatter Herzensbrecher eben. Ob er sich wohl nach Hause sehnte, dort in den Straßen Manhattans? Sie bezweifelte es. Er hatte ihr die ganze Sache eingebrockt und wusste es nicht mal. Wahrscheinlich feierte er eine rauschende Endlosparty, die ganze Nacht hindurch. Shell hauchte an die Scheibe, tippte mit dem Finger auf ihren Atemfleck und zeichnete einen Stern mit fünf scharfen Zacken. Du bist wie ein brünstiges Mutterschaf, Shell. Und du bist wie ein Stier, der mit den Hörnern irgendwo feststeckt.
    Die Tür öffnete sich. Sergeant Cochran kam mit einem Becher zurück und stellte ihn auf den Tisch. Shell warf einen Blick über ihre Schulter, dann schaute sie wieder aus dem Fenster, ohne sie zu beachten.
    »Michelle«, sagte Sergeant Cochran. »Dein Vater möchte dich sehen.«
    Sie zeichnete wieder etwas auf die Scheibe. Diesmal einen schiefen Weihnachtsbaum. Hoffentlich hatte er spitze Nadeln.
    »Hast du gehört?«
    Hinter der bunten Lichterkette wogte der dunkle Ozean. »Ja.«
    »Es ist dein Recht, Michelle, ihn bei dir zu haben, als deinen Erziehungsberechtigten. Er hätte eigentlich schon die ganze Zeit bei dir sein sollen, aber Superintendent Molloy bestand darauf, euch einzeln zu vernehmen, als zwei Verdächtige.«
    »Werden Sie mich gehen lassen?«, flüsterte Shell.
    Sergeant Cochran schwieg einen Moment. »Ich denke schon, in deinem Fall«, sagte sie schließlich. »Laut Gesetz bist du noch minderjährig. Aber wir müssen wissen, wo wir dich hinschicken sollen. Wir können dich doch nicht allein nach Hause schicken.«
    »Aber ich möchte nach Hause«, sagte Shell. »Zu Jimmy. Und Trix.« Sie presste eine Hand gegen das kalte Glas. »Wo sind sie? Was ist mit ihnen geschehen?«
    »Jimmy und Trix sind immer noch bei den Duggans, soweit wir wissen.«
    »Dann kann ich sie also abholen und mit ihnen nach Hause gehen?«
    »Shell. Wir werden deinen Vater die ganze Nacht über hier behalten. Er hat gestanden, verstehst du?«
    »Gestanden? Was denn?«
    »Dein Baby getötet zu haben.«
    Sag überhaupt nichts, Shell. Sag bloß kein Wort. Die schriftliche Aussage. Die Tatsachen. Shells Lippen formten ein O, sie hauchte an die Scheibe. Doch diesmal zeichnete sie nichts. Sie sah zu, wie der Dunstfleck bis auf die Größe einer Münze zusammenschrumpfte, während ihr das Herz zu schwanken schien. Er hatte gestanden. Er hatte gelogen. Gestanden. Gelogen.
    »Ich habe es Ihnen doch gesagt«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Niemand hat mein Baby getötet. Mein Baby ist gestorben. Jimmy, Trix und ich, wir haben es begraben. Auf dem Acker.« Sie drehte sich um. »Mein Baby war ein Mädchen.«
    Sergeant Cochran seufzte. »Das behauptest du, Michelle. Ich weiß. Aber dagegen steht die Aussage deines Vaters. Und unser Fund in der Höhle.«
    »Ich möchte ihn nicht sehen«, sagte Shell. »Es ist mir egal, was er sagt. Ich will einfach nur nach Hause. Ich möchte zu Trix. Und zu Jimmy.«
    Es klopfte an der Tür. Ein Polizist streckte den Kopf herein und Sergeant Cochran ging hinüber, um mit ihm zu reden. Sie flüsterten.
    »Du hast offenbar Besuch, Michelle«, sagte Sergeant Cochran laut. »Jemand, der darauf besteht, dich zu sehen.«
    »Dad, nicht wahr?«
    »Nein, ein gewisser Pater Rose.«
    Shell blieb der Mund offen stehen. Pater Rose? Ihre Finger fuhren zitternd Richtung Hals, dann durch ihr Haar. Pater Rose? Sie dachte an die Heilige Jungfrau Maria beim Gebet, die sich blähenden Vorhänge am Fenster, die hellen Lichtstrahlen, das Schlagen der heiligen Flügel. Ihre Augen weiteten sich, sie stolperte zum Tisch.
    »Möchtest du ihn sehen?«
    »Ich … ich …« Sie sank auf den Stuhl.
    »Ist das ein Ja?«
    Die Schäfer duckten sich ins Feld, zu Tode erschrocken. Sie griff nach dem Becher mit dem Tee. »Ja«, sagte sie. »Ich denke, schon.«
    Sergeant Cochran ging hinaus, um ihn zu holen.
    Im Zimmer herrschte Stille, der Wind schwieg.
    Shell trank den Tee, ohne zu merken, was sie tat.
    Inzwischen musste er es wissen. Alles. Er würde sie für die schlimmste aller Sünderinnen halten, für unwiederbringlich verloren, gefallen in den Höllenschlund. Der Wagen ist nicht kaputt, eher am Pausieren. Gottes Segen. Bist du hergekommen, um zu beten, Shell? Oder einfach nur, um vor dem Regen Schutz zu suchen? Er würde durch die Tür kommen und sie würde vor Scham vergehen. Shell wünschte, sie hätte es abgelehnt, ihn

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