Ein reiner Schrei (German Edition)
aus Elfenbein.
»Kannst du spielen?«, fragte er.
»Nein. Sie etwa?«
»Nur ein bisschen. Mein Bruder Michael war der Musikalische von uns beiden.« Er spielte einen Akkord, der das leere Haus füllte und die Stille unterbrach. »C-Dur, so viel weiß ich noch«, sagte er. Die Töne klangen nach, eine Spur der Hoffnung.
»Wie schön.« Shell lächelte. »Jimmy spielt auch. Das hat er von Mum.«
Pater Rose schloss den Klavierdeckel und griff nach der Taschenlampe. »Du gehst voran, Shell.«
Sie gingen hinaus auf den Acker und stiegen den Hang hinauf. Der Matsch zerrte an ihren Schuhen. Shell wäre beinahe ausgerutscht. Doch er packte sie rechtzeitig am Arm und ließ seine Hand dort. Trotz der Dunkelheit hatte sie keine Schwierigkeiten, die Stelle zu finden. Es war, als würde sie magnetisch davon angezogen. Pater Rose richtete den Lichtstrahl auf den Steinkreis. Nichts hatte sich verändert, seit sie sie dort hingelegt hatten. Daran hatte sie nun keinen Zweifel mehr.
»Hier ist es«, flüsterte sie. »Unberührt. Ich wusste, dass niemand ihr etwas getan hat. Ich wusste es.«
Sie ging in die Hocke und schlang im Halbschatten der Taschenlampe die Arme um ihren Leib. Vom Wäldchen zog wie ein Murmeln eine nächtliche Brise herüber und umwehte sie. Pater Roses Hand hob sich zum Segen. Durch ihre Tränen nahm sie den Klang seiner Stimme wahr, wie einen schwingenden Akkord in C-Dur. Möge das ewige Licht sie bescheinen, o Herr, betete er. Eine Eule schrie, wie um in das Gebet mit einzustimmen. Und ihr ewige Ruhe vergönnt sein.
Achtunddreißig
Er fuhr über den Berg und ließ sie am Hof der Duggans aussteigen. Die drei Hunde umringten sie schnuppernd und Mrs Duggan erschien an der Tür, hinter ihr roch es nach Braten.
»Shell«, sagte sie, streckte ihr die Hände entgegen und umarmte sie. »Was erzählen diese verrückten Polizisten über dich? Komm herein und trink einen Tee.«
In der Küche war es warm und hell. Von oben war Gepolter auf der Treppe zu hören. Trix und Jimmy stürmten herein. »Shell!«, brüllte Trix und stürzte auf sie zu. Jimmy boxte triumphierend in die Luft und dann sich selbst.
»Beruhigt euch«, sagte Mrs Duggan lächelnd. »Weckt mir nicht den Kleinen auf.« Sie deutete mit einem Kopfnicken zur Heißmangel hinüber, neben der ein Kinderwagen stand. »Er ist eben erst eingeschlafen.«
Es war Mrs Duggans neugeborener kleiner Sohn, der mit dem Loch im Herzen. Shell hatte ihn ganz vergessen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Mein Gott. Das Durcheinander um sie herum verstummte.
Auf dem Herd zischte spritzendes Fett.
Alle starrten sie an. Kindsmörderin.
Sie machte einen Schritt auf den Kinderwagen zu. Ich schaue mir einfach die Babydecke an, nicht das Gesicht. Man erwartete es von ihr, das spürte sie. Ich sage: »Er ist einfach goldig, Mrs Duggan«, und damit ist der Fall erledigt. Ich muss ihn mir nie wieder ansehen. Nie. Sie senkte den Blick und betrachtete die Plastiktiere, die von der Querstange herab-baumelten, eine zitronengelbe Decke mit winzig kleinen Löchern im Gewebe. Am Fußende ein achtlos hineingeworfenes gestricktes Kaninchen als Kuscheltier. Trix drängte sich neben sie.
»Er macht schon wieder eine Blase! Aus Spucke!«
»Sei still, Trix«, sagte Shell. Doch es war zu spät, sie hatte bereits hingeschaut. Da war er, ein Klecks, der auf den runzeligen Lippen zerplatzte. Der Junge hatte Pausbacken und dunkle, zuckende Augenlider. Mums Melodien wogten plötzlich durch den Raum. Das Baby in der Höhle, das Baby auf dem Acker. Das lebendige und das tote. Der Körper des Kindes machte unzählige winzige Bewegungen, ihres dagegen war reglos gewesen. Shell packte den Griff des Kinderwagens und legte das Kaninchen ordentlich hin. »Es geht ihm gut, Mrs Duggan«, stieß sie mühsam hervor.
Ruhe. Ewig. Die Wärme der Wäschemangel, die Betttücher der Müdigkeit, der Geruch nach Essen. Die Geräusche verstummten, die Farben verwischten. Die Welt musste ihren Boden verloren haben. Licht, eeeeeeeeeeeewig, heulte die Eule. Irgendjemand stützte sie, half ihr die Treppe hinauf. »Es geht ihm gut, Mrs Duggan, gut«, sagte sie. Das Baby lag in ihren Armen und sie war unterwegs. Mühte sich den Hang hinauf, zum Wäldchen. Die Eule war verschwunden, die Bäume waren kahl. Bettdecken hüllten sie ein. Endlich. Sie legte das Baby ab, irgendwo auf dem weiten Acker, in die wogende Gerste.
Neununddreißig
Shell durfte die Weihnachtsfeiertage im Bett verbringen. Seltsame Dinge tauchten
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