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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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zu sehen. Es wäre besser, Dad zu sehen. Sie wünschte …
    Die Tür öffnete sich. Er war es.
    Er trug Jeans und eine braune Lederjacke mit einem locker hängenden Kragen aus Lammvlies. Und er schien so unrasiert zu sein wie immer, wenn der Tag sich dem Ende zuneigte.
    »Shell«, sagte er. »Da bist du ja.« Es war, als wäre er ihr gerade im Dorf über den Weg gelaufen, vor dem Laden von McGrath vielleicht oder bei einem Strandspaziergang. Er wirkte viel normaler, als sie es in Erinnerung hatte. Pater Rose drehte sich nach dem Polizisten um, der ihn begleitet hatte. »Ich möchte gern mit ihr allein sprechen.«
    Der Wachtposten wirkte unsicher.
    »Unter vier Augen«, sagte Pater Rose. Er tippte auf seine Armbanduhr. »Fünf Minuten? Sie können draußen warten, wenn Sie wollen.« Der Polizist zögerte. »Es ist ihr Recht. Das heißt, wenn sie danach verlangt. Verlangst du es, Shell?«
    »Ja, Pater.«
    »Na bitte, sie will es.«
    Der Polizist zuckte mit den Schultern und zog sich zurück. »Fünf Minuten«, sagte er. »Und ich bleibe da draußen stehen.«
    Die Tür schloss sich. Pater Rose nahm sich den zweiten Stuhl, steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke und atmete erleichtert auf. Dann kicherte er.
    »Ich habe keine Ahnung von Gesetzen, Shell. Das mit dem Recht hab ich mir einfach ausgedacht.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich. Eine Sünde mehr.« Er lächelte.
    Shell erwiderte das Lächeln.
    »Aber eins weiß ich. Sie dürfen dich nicht über Nacht hier behalten. Nicht in deinem Alter. Ich habe einen Freund in Dublin gefragt, der Rechtsanwalt ist.«
    »Dann lässt man mich also gehen?«
    »Es sei denn, du wirst angeklagt. Wird man dich unter Anklage stellen?«
    »Ich weiß nicht. Sie reden die ganze Zeit. Dieser Mann. Molloy …« Ihre Lippen zitterten und sie erschauerte.
    »Was? Was hat er getan?«
    »Nichts. Ich hab ihm bloß die Wahrheit gesagt. Aber er glaubt mir einfach nicht. Dad ist es, dem sie glauben«, flüsterte sie. »Ich glaube, dass sie ihn anklagen werden. Wissen Sie … er hat gestanden.«
    »Mein Gott.« Pater Rose legte die Hände flach auf den Tisch, die Finger gespreizt. »Was ist denn passiert? Was hat der Mann getan?«
    Shell schob den Teebecher beiseite und faltete die Hände auf dem Tisch, die eine in die andere, so dass ein warmer Hohlraum entstand. »Pater Rose«, sagte sie. Sie schluckte. Es ist sechs Monate her, dass ich gebeichtet habe, und dies sind meine Sünden. »So war es nicht. Es war nicht Dad. Es war nicht so, wie alle denken. Irgendwas ist da durcheinandergeraten. Ich verstehe nicht, wie das passiert ist.«
    »Du kannst es mir ruhig sagen, Shell. Vielleicht können wir es gemeinsam wieder entwirren.«
    Sie holte tief Luft. Innerhalb von zwei Minuten hatte sie ihm alles erzählt, so wie sie es auf das Band gesprochen hatte: von dem Körperbuch, der Geburt und dem Begräbnis. Doch diesmal fiel es ihr leichter, ohne das geisterhafte Rauschen und die halb geschlossenen Augen, die sie beobachteten. Er hörte zu. Und während sie redete, bewegten sich seine Hände über den Tisch auf sie zu.
    »Mein Gott«, flüsterte er, als sie fertig war. Seine rechte Hand legte sich auf die ihre. »Wir haben dich im Stich gelassen.« Seine linke wanderte Richtung Stirn, bedeckte die Augen. »Neulich in der Kirche«, sagte er. »Da bist du gekommen, weil du mich um Hilfe bitten wolltest?«
    »Ich … ich …«
    »Stimmt doch, oder? Und ich habe es nicht begriffen. Obwohl ich zwei Augen im Kopf habe, habe ich es nicht begriffen. Ich war viel zu sehr mit meinem eigenen Zustand der Gnade beschäftigt. Oder mit dem Mangel daran.« Er hielt inne, sein Kopf schwankte vor und zurück. »Eine letzte Frage, Shell. Ich muss dich das fragen.« Er stockte. »Wer ist der Vater?«
    Shell biss sich auf die Lippen.
    »Wer war es, Shell? Es war doch niemand in deiner Nähe?«
    »In meiner Nähe?«
    »Ich meine, jemand aus Coolbar – oder noch näher?«
    Shell dachte an Declan im Flugzeug, der dem Tag nachjagte, auf einen anderen Kontinent, dabei die Gratisgetränke runterkippte und sich die Wolken anschaute. Wir sind immer noch Zugezogene, Shell. »Nein, Pater Rose«, flüsterte sie. »Niemand aus Coolbar. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Es war …« Aber aus irgendeinem Grund ging ihr der Name Declan Ronan nicht über die Lippen, genau wie es mit Bridies Namen der Fall gewesen war, als sie damals gestritten hatten.
    Pater Roses Brauen zogen sich zusammen. »Wer auch immer es ist, er verdient nicht,

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