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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Michelle? Das Schreien? War dies der Grund, warum Sie das Baby an diesen dunklen Ort mit den dicken Felswänden ablegten? Damit sie das Schreien nicht länger hören mussten?«
    Shell öffnete die Augen. »Das Schreien?«, murmelte sie. Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. »Das Schreien?« Das war es. »Mein Baby … mein Baby hat nie geschrien. Kein einziges Mal. Ich habe nicht gehört, wie sie geschrien hat. Nie. Nur hier drin habe ich ihr Weinen gehört.« Sie berührte ihren Kopf. »In meinen Gedanken. Dort hat sie geweint. Und sie weint immer noch. Aber in Wirklichkeit … nein, sie hat nie geschrien.«
    Shell stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und presste die Knöchel ihrer Hände auf die Augen, bis gelbe Streifen unter den Lidern erschienen. Sie hörte, wie der Mann, der ihr gegenübersaß, geräuschvoll ein- und ausatmete. Es war wie das Tosen der Brandung, die draußen heranrollte und sich wieder zurückzog. Die Abdeckerei. Totes Fleisch an Haken. Diese Höhle, Shell, ist ein Höllenloch. So wie ganz Irland. Das Baby weinte nach seiner Mutter, und die Wellen hörten nicht hin. Das Angelusgeläut dröhnte, übertönte das Weinen.
    »Ich habe noch nie von einem Baby gehört, das nicht geschrien hat!«, zischte Molloy. Sein Mund war direkt an Shells Ohr.
    »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Sie hat nicht geschrien. Weil sie tot war. Ich habe es nicht gemerkt. Jedenfalls nicht gleich. Aber sie war von Anfang an tot. Sie kam tot zur Welt.«
    »Ich weiß, dass das Baby tot ist, Michelle. Das müssen Sie mir nicht erzählen. Ich habe es gesehen. Sie nicht. Wissen Sie, wie der Tod aussieht, Michelle?«
    Shell ließ die geballten Fäuste sinken und starrte auf das Aussageprotokoll, das auf dem Tisch lag. Ich, Joseph Mortimer Talent, wohnhaft in der Coolbar Road, Grafschaft Cork, versichere, dass das Folgende die Wahrheit ist …
    »Wissen Sie es, Michelle? Denn es ist nicht schön. Die Haut sieht seltsam aus. Der Körper beginnt zu riechen …«
    Shell saß wieder an Mums Totenbett, neben sich das wächserne Gesicht und die gelben Hände, die den milchweißen Rosenkranz umklammerten. Sie hielt sich beide Ohren zu. »Nein!«
    »Hören Sie zu, mein Fräulein. Hören Sie mir gefälligst zu.«
    »Nein.«
    »Hören Sie, Michelle, der Tod ist endgültig. Mord ist eine Todsünde. Und Ihr Baby, ein für alle Mal, war kein Mädchen, sondern ein Junge!«
    Shell erhob sich, die Hände an den Ohren. Sie war der Vogel, den der Sperber erwischt hatte. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam kein Ton. Sie stand in dem Raum mit dem Milchglasfenster und schrie lautlos. Das Geflecht der kleinen Adern. Die Dunkelheit, die unebenen Wände. Die Toten erstanden wieder auf und erschienen in großer Zahl. Zwei helle Flecken flimmerten schwebend vor der Wand, an der die Farbe abblätterte: die Seelen der Verstorbenen. Ihr Baby Rosie und Mum waren gemeinsam gekommen – nicht um sie zu quälen, sondern als Rettung. Als die beiden am Rande ihres Sichtfeldes auftauchten, wusste Shell, dass sie in Sicherheit war. Das helle Licht ihrer Engelsflügel hüllte sie ein. Der Mann würde ihr niemals etwas anhaben können.

Sechsunddreißig
    Der lautlose Schrei bewirkte, was die Wahrheit nicht geschafft hatte.
    Molloy verließ den Raum.
    Sergeant Cochran brachte Shell zurück in das Zimmer mit den normalen Fensterscheiben. Sie ließ sie Platz nehmen und legte ihr einen Arm um die Schulter. Sie sagte Nettigkeiten, aber Shell hörte nicht zu. Dann ging sie, um eine Tasse Tee zu holen.
    Als die Polizistin zur Tür hinaus war, stellte Shell sich ans Fenster. Die wirbelnden Atome in ihrem Kopf wurden langsamer. Sie atmete tief ein. Die Lagen der Antennen und Schornsteinköpfe unterhalb von ihr verschwammen in der früh einsetzenden Dunkelheit. Lautstark heulte der Wind, doch der Regen war vorüber. Sie berührte die Scheibe mit ihrer Stirn und dachte an Weihnachten: die Geschenke, die sie für Jimmy und Trix eingepackt hatte. Wo sind die beiden jetzt? Wer kümmert sich um sie? Weit entfernt sah sie eine schwankende Kette aus gelben Punkten: bunte Lichter entlang der Hafenpromenade. Etwas klärte sich tief in ihrem Inneren. Ich habe mein Baby geliebt. Geliebt. Sie summte ein anderes von Mums Liedern vor sich hin, jenes, das sie beim Waschen der Wollsachen immer gesungen hatte:
Grün sprießt die Lilie,
der Tau ihre Zier,
schwer war mein Herz
beim Abschied von dir …
    Es handelte von einem Liebhaber, der untreu

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