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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Traurigkeit. Seine Stimme stockte. »Nachdem sie gestorben war, hat mich alles, was ihr gehört hat, krank gemacht. Durch die Erinnerung daran, wie sie mich von ihrem Krankenbett aus angeschaut hat, vorwurfsvoll. Sie hat nie ein Wort gesagt. Aber ihr Blick, Shell. Ihr Blick sagte alles. Die Jahre. Die Lügen. Die Sauferei. Und das eine Mal, als ich sie geschlagen habe. Es war nur dieses eine Mal, aber damit hatte ich bei ihr verspielt. Von dieser schlimmen Nacht bis zu dem Tag, an dem sie starb. Ihre Augen verfolgten mich, starrten mich sogar aus dem Bierglas an. Ihre Kleider, ihre Platten, ihre Musikbücher, ich habe alles verbrannt. Du, Jimmy und Trix, ihr wart in der Schule, als ich es tat. Ich habe ein riesiges Feuer gemacht, auf dem Acker hinterm Haus. Die Flammen schlugen bis zum Himmel, waren höher als ich. Ich warf alles auf den Haufen und sah zu, wie es verbrannte. Die Röcke, die Unterwäsche, die Hosen. Die Lippenstifte, die Schals, die Sonntagshüte. Innerhalb von Sekunden war alles fort. Und der Whiskey wärmte mich, während die Asche umherflog und der Geruch nach ihr zu Rauch wurde. Nur das rosa Kleid nicht. Das nicht.«
    »Du hast es behalten?«, flüsterte Shell.
    Er nickte, die Augen geschlossen, in Gedanken weit entfernt. »Sie hat mit mir getanzt, in dieser Nacht, als sie sagte, dass sie mich heiraten würde. Coolbar hatte die Hurling-Meisterschaft gewonnen und das ganze Dorf war am Feiern. Im Pub war die Hölle los. Ich habe ihr einen Drink aus Portwein mit Zitrone ausgegeben und dann habe ich sie gefragt. Die Band hat gespielt, es klang wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzen. Sie nahm einen Schluck und dann schaute sie mir in die Augen und sagte Ja. Ja, Shell. Wir tanzten die ganze Nacht durch. Ich wirbelte sie herum, wilder Rock ’n’ Roll. Immer schneller. Die Wände drehten sich. Die Leute brüllten. Wir tanzten so schnell, dass wir fast vom Boden abhoben, mit einer Menschenmenge um uns rum, alle johlten und klatschten. Es gab niemanden außer uns in dieser Nacht. Ich, sie. Und ihr Gesicht, als ich sie herumwirbelte, Shell. Ihre Lippen waren rosa wie das Kleid. Ihre Augen strahlten wie zwei Sonnen. Sie war glücklich. Ich hielt ihre beiden Hände, mit gekreuzten Armen, die Handgelenke übereinander. Ich hatte sie gefragt, ob sie mich heiraten wollte, und sie hatte Ja gesagt. Wir waren glücklich. Sie. Ich. Ihre Haare flogen wie Bänder. Niemand sonst war in dem Raum in dieser Nacht. Niemand.«
    Seine Augen fixierten die mit Whiskey bespritzte Wand.
    »Ich hab deine Mutter geliebt, Shell.«
    Das Licht in dem Raum wurde schwächer, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. In Shells Vorstellung fielen die Schneeflocken nach oben, als wollten sie dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Mum entfernte sich mit leisen Schritten von ihnen. Shell und Dad waren allein. Die Düsternis kehrte zurück, schweigend und schwer.
    Dad sah sie an. »Ich habe sie geliebt, Shell.« Der Scherbenhaufen seines Lebens stand ihm im Gesicht geschrieben.
    »Ich weiß, Dad«, sagte Shell. Sie sah sich wieder in den Gischt versprühenden Wellen, stampfend und hüpfend. Eis, schönes Eis, Eis wird verkauft. »Ich weiß.« Eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Sie nahm seine Hand. »Aber Dad, das Geständnis …«
    Die Tür hinter ihnen öffnete sich, der Polizist betrat den Raum. »Molloys Anordnung«, sagte er. »Tut mir leid. Die Zeit ist um.«
    Dad stand auf. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, kopfschüttelnd, wandte sich ab und trat an das Milchglasfenster. Sie sah seine Finger, die über das geriffelte Muster der Scheiben strichen. Rauf und runter, hin und her.
    »Mach’s gut, Shell«, sagte er.
    Der wartende Polizist hustete.
    »Mach’s gut, Dad.« Seine Finger waren wieder wie Schmetterlinge, auf und ab flatternde Schmetterlinge an der Fensterscheibe. Sie sah sein unmerkliches Nicken. Er war meilenweit entfernt.
    Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehen.

Vierundvierzig
    Am nächsten Morgen saßen Trix, Jimmy und Shell alle zusammen auf dem Bett und schnitten die vielen Artikel aus. Sie waren über Nacht wie Pilze aus dem Boden geschossen und es hatte keinen Sinn mehr, sie beim Brennmaterial zu verstecken. Tote Babys lagen über die ganze Tagesdecke verstreut. Superintendent Dermot Molloy erklärt … Von einer Person, die der Familie nahesteht, ist zu erfahren … Trix raffte die Schnipsel zusammen, warf sie in die Luft und ließ sie auf alle drei herabregnen wie

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