Ein reiner Schrei (German Edition)
erinnerte Shell an die Bilder der Märtyrer, bei denen Pfeile die Gliedmaßen oder den Bauch durchbohrten oder Nägel in ihren Handgelenken steckten, während sie in heiliger Verzückung gen Himmel blickten.
»Shell«, sagte er. »Ich habe es getan.« Er streckte die Arme nach ihr aus. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich von ihm umarmen zu lassen. Ihr Magen zog sich zusammen. Ihr blieb der Mund offen stehen. Seit Menschengedenken hatte er sie nicht mehr umarmt. Sie roch seinen muffigen Gefängnisgeruch, seinen sauren Atem. »Shell, mein Mädchen.«
Hastig wand sie sich von ihm los. »Dad. Es tut mir leid«, stammelte sie. Ihre Hände rutschten die Tischkante entlang, sie musste sich setzen. Gott im Himmel. Welcher Teufel hat ihn jetzt geritten? Seine Augen blickten sie an wie stille Teiche. »Ich wollte dich nicht zum Trinken verführen, Dad. Bist du wütend?«
»Wütend?« Sein rechter Zeigefinger berührte seine Stirn, dann den Brustkorb, die beiden Schultern. Er lächelte. »Nein.«
»Aber du hattest doch danach gefragt. Letztes Mal.«
»Letztes Mal?«
»Erinnerst du dich nicht? Als ich dich das letzte Mal besucht habe?«
Er winkte ab. »Alle Tage hier kommen einem vor wie ein einziger, Shell. Ich hab meinen Rosenkranz zum Zählen. Aber Zeit spielt keine Rolle mehr.«
»Geht es dir gut, Dad?«
»Es ging mir nie besser, Shell. Ich bin in den Händen des Herrn.«
Sie stockte und beugte sich vor. »Ich bin hier, um dich um etwas zu bitten, Dad. Etwas Wichtiges.«
Ein leichtes Zucken der Missbilligung huschte über sein Gesicht. »Es gibt nichts Wichtiges mehr. Worum geht es?«
»Um dein Geständnis. Dass du die Babys getötet hast. Du musst es zurücknehmen.«
Der Anflug von Ärger war vorüber. »Ach, das.« Seine Hand machte eine ausladende Geste, wedelte ihre Worte davon.
»Aber es stimmt nicht, Dad. Du hast sie nicht getötet.«
»Habe ich, Shell. Ich habe sie sehr wohl getötet.« Er schlug sich gegen die Brust. Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. »Dein Freund Molloy, der hat die rechte Einstellung.«
»Aber Dad, du hast es nicht getan. Du warst in Cork und hast Spendengelder gesammelt. Weißt du noch?«
»Spendengelder?« Seine Pupillen wurden schwarz und matt. Sein Blick löste sich von Shell und schweifte hinüber zur Wand, auf das Rechteck aus Licht, das vom Fenster kam. »Die Spendengelder?« Seine Hand strich über die Tischplatte. »Nach dieser Nacht, der Nacht nach dem Ostersamstag, Shell, als ich in dem leeren Haus aufgewacht bin, bin ich wirklich in die Stadt gefahren. Ich habe meine Lektion gelernt. Die Straße rauf- und runterlaufen und mit der Büchse rasseln. Spendengelder sammeln. Wie du gesagt hast. Aber dann hab ich alles ausgegeben, unten am Hafen. Das müsstest du mal sehen. Es ist so trostlos dort, Shell, unten am Flussufer, am Hafen. Die Frauen da, alle möglichen Frauen, egal welches Alter. Manche sind so jung wie du, Shell. Wie diese Schulfreundin von dir, Bridie. Genauso dreist und forsch wie sie. Und ich hab da eine nette Dame kennengelernt. Peggy hieß sie. Ein Mann braucht ein Ventil, Shell. So ein Mann wie ich. Aber sie hat mir das letzte Hemd ausgezogen.«
Shell erinnerte sich an den Lippenstift auf den Kragen seiner Hemden. Sie öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen. Dad und seine Maria Magdalenas. Es war nicht zu glauben. Sie brachte keinen Ton heraus.
»Es lag an dem rosa Kleid, Shell.«
»Das rosa Kleid?« Sie dachte daran, wie es zusammengefaltet unter ihrem Bett gelegen hatte. Sie saß wieder an der Frisierkommode, schaute in die Spiegel, während ihre Abbilder in die Welt der Geister entschwanden. Mum.
»Du hast es angehabt. Das rosa Kleid.« Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, bohrte die Finger in die Augen, als wollte er sie sich ausstechen. »Ich hätte es zusammen mit den anderen Sachen fortwerfen sollen. Aber ich konnte es nicht, Shell. Es war das Kleid, das sie in der Nacht trug, als sie in die Heirat einwilligte. Danach hat sie es nie wieder angehabt. Die Jahre haben es nicht beschmutzt.«
»Die Jahre?«
»Die Säuferjahre.«
Seine Augen funkelten durch den düsteren Raum.
»Ich verstehe das nicht, Dad«, sagte Shell leise. »Das mit dem Trinken … Was ist so toll daran?«
»Ach, Shell. Es ist nicht der erste Schluck, der zweite auch nicht. Aber der dritte. Er summt im Kopf. Er lächelt im Bauch. Es ist, als würde deine Seele ihre Flügel entfalten.« In seinem Blick lag ein Ozean von
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