Ein reiner Schrei (German Edition)
Gesicht abwenden und in die Allee einbiegen, an deren Ende das große rosafarbene Haus der Ronans aufragte. Dort würde sie anklopfen.
Entschuldigen Sie, Mrs Ronan, dürfte ich nur kurz reinkommen und Ihnen von Ihrer Enkeltochter erzählen, die ich vor kurzem beerdigt habe?
Mr Ronan, ich dachte, ich schau mal vorbei, damit sie im Bilde sind. Ihr Sohn, Declan. Der war’s. Nicht Pater Rose.
Bist ein braver Junge, Seamus. Wie läuft’s denn so in der Schule? Wusstest du, dass du fast mal Onkel geworden wärst?
Shell malte sich aus ein zweites Mal zu klopfen. Das rosafarbene Haus stand unbeeindruckt und gelassen da. Sie betrachtete die hohen Hecken, die Mr Ronan zu einer Formensinfonie zurechtgeschnitten hatte: Burgzinnen, pilzförmige Bäume, der Kopf eines Pferdes. Auf dem Weg standen hie und da ein paar seiner albernen Gartenzwerge, die anderen lugten vom Steingarten herüber. Sie erinnerte sich, wie Declan erzählt hatte, dass er die kleinen Kerle vertauschte, wenn sein Vater gerade nicht hinsah. Und dass sein Dad immer witzelte, die Gartenzwerge seien lebendig geworden und hätten sich von ganz allein bewegt. In der kalten Luft lag das Haus da und verhöhnte sie und irgendwo hinter dem Atlantik hielt Declan sich den Bauch vor Lachen, wie der verschlagene kleine Kerl mit der roten Zipfelmütze, der aus dem Pampagras hervorlugte. Winke, winke. Du bist eine Klasse für sich, Shell.
Niemand würde ihr die Tür öffnen. Mr Ronan war in Cork, bei seinem tollen Job auf dem Finanzamt. Und Mrs Ronan traf sich mit den anderen Damen im Golfklub von Castlerock. Selbst wenn man Shell hereinließ, niemand würde ihr glauben. Ihr Sohn mit der vollen Punktzahl fürs College … gab sich mit einer wie ihr ab?
Sie erinnerte sich, wie Declan aus dem Wagenfenster gewinkt hatte, zum Abschied. Hinter den Bergen, bei den Zwergen. Sie sah sich und ihn wieder im Feld der Duggans und er kitzelte sie mit der Gerstenähre. Declan und ich, ein geheimer Klub. Er hatte sie schwören lassen nichts zu verraten und sie hatte Wort gehalten. Aber er war eben ein Mann, der immer auf seinen Vorteil bedacht war. Ein aalglatter Herzensbrecher, wie er im Buche stand. Wenn der Tratsch um Pater Rose schlimmer wird, entschied sie, werde ich dich verraten, Declan. Dann, nur dann.
Fünfundvierzig
Am Sonntag sollte Shell nicht mit in die Kirche kommen, doch sie bestand darauf. Mrs Duggan quetschte sie alle miteinander in das Auto; Shell saß vorne, dicht an Trix gepresst, die drei Jungen und das Baby drängten sich auf dem Rücksitz. Mr Duggan lief zu Fuß voraus. Shell hatte ihre taubenblaue Häkeltasche um den Arm gewickelt und sich Je Reviens auf die Handgelenke und Ohrläppchen gesprüht. Sie war schon seit Monaten nicht mehr in der Kirche gewesen.
Sie hielten vor dem Portal. Die Glocken läuteten. Das ganze Dorf war da.
»Bist du sicher, dass du mit hineinwillst?«, fragte Mrs Duggan, während die Jüngeren aus dem Wagen sprangen. »Es wird einige Blicke geben.«
»Ich bin sicher«, sagte Shell. Wenn sie starren, starre ich zurück, dachte sie. Sie stellte sich vor, Mrs McGrath so heftig zu fixieren, dass ihr Hut zu tausend Fetzen explodierte, und die Feder verwandelte sich in eine gackernde Ente. Mrs Fallons grau gefärbtes Haar würde in Türkis umschlagen und sie würde in Ohnmacht fallen, flach auf den Rücken. Und Nora Canterville würde ihre selbst gemachte Consommé, klar und rein wie die Seele eines Neugeborenen, wieder hochkommen und als Fontäne aus dem Mund schießen, mit Zwiebelstückchen, die ihr von den Lippen tropften.
Als sie hereinkam, begann das Harmonium schief zu spielen. Es wurde totenstill. Mrs Duggan führte sie den Mittelgang hinunter nach vorn. Shell nahm hundert Blicke wahr, spitz wie Gabelzinken, gerümpfte Nasen, wedelnde Hände – eine Meute kleiner geifernder Tiere. Dann hörte sie das Getuschel, wie Stare auf einer Hochspannungsleitung. Ist mir egal. Sie nahm ihren Platz ein und straffte den Rücken. Sie begutachtete ihre Fingernägel. Sie untersuchte den Inhalt ihrer taubenblauen Tasche. Ist mir so was von egal.
Die Musik setzte wieder mit dem Eingangschoral ein. Die Gemeinde erhob sich. Pater Carroll trat aus der Seitentür. Von Pater Rose war nichts zu sehen. Sie spürte, wie der Blick des Paters an ihr haftenblieb, drehte den Kopf weg und schaute zur Statue der heiligen Theresa. Sie kniff die Lippen zusammen. Die Messe begann.
Der Zug der Drei Könige näherte sich dem Stall, es war Epiphanias.
Bei der
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