Ein Ring von Tiffany - Roman
er nur in diesen wenigen stillen Stunden der Woche wirklich etwas geschafft. In ihrem aufgelösten Zustand hatte Leigh diesen wichtigen Punkt vergessen.
»Wovon reden Sie?«, fragte Leigh in halbwegs glaubwürdig irritiertem Ton. »Natürlich bin ich wirklich krank. Wie kommen Sie darauf, dass etwas vorgefallen ist?«
»Ach, ich weiß nicht, vielleicht deshalb, weil Sie sich in all den Jahren, die Sie nun schon hier arbeiten, noch nie auch nur einen Tag krankgemeldet haben, plus die Tatsache, dass Jesse Chapman, frisch zurück aus Asien, mir gestern drei und heute Morgen bereits weitere zwei Nachrichten hinterlassen hat. Nennen Sie es meinethalben Intuition .«
»Was hat er gesagt?«, fragte Leigh. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihre Arbeitsbeziehung grundsätzlich beendet
war, aber das wollte sie Henry selbst mitteilen, wenn sie dazu bereit war.
Sie hörte, wie Henry an irgendetwas nippte und dann vor sich hin gluckste. »Er hat keinen Pieps gesagt. Behauptete, er wolle sich bloß ›zurückmelden‹ und ›Verbindung halten‹ und ›Hallo sagen‹, was aus dem Mund von Mr. Chapman genauso gut in Großbuchstaben an den Himmel geschrieben heißt: ›Irgendwas ist total schiefgelaufen, und ich versuche in Erfahrung zu bringen, ob Sie wissen, worum es sich handelt, oder nicht.‹«
Leigh holte tief Luft, einerseits beeindruckt von Henrys Scharfsinn und andererseits wütend über Jesses Durchschaubarkeit. »Tja, ich kann natürlich nicht für Jesse sprechen, aber was mich betrifft, gibt es nichts zu berichten. Das Manuskript ist noch nicht so, wie ich es gerne hätte, aber das ist kein Grund zur Beunruhigung«, sagte sie mit gespielter Souveränität.
Henry schwieg einen Augenblick, setzte zum Sprechen an und überlegte es sich dann anders. »Also, das ist Ihre Geschichte, und dabei bleiben Sie, hm? Na schön. Ich kaufe sie Ihnen nicht ab, aber ich akzeptiere sie - fürs Erste. Sobald allerdings irgendwas eintritt, was unseren Erscheinungstermin in Gefahr bringt, möchte ich das wissen. Egal, um welche Tages- oder Nachtzeit, ob per FedEx oder Brieftaube, ich will es wissen. Okay?«
»Aber natürlich! Henry, Sie müssen mir wahrhaftig nicht einschärfen, wie wichtig das ist. Ich schwöre Ihnen, ich habe alles im Griff. Und es tut mir leid, dass ich jetzt Schluss machen muss, aber ich habe das Gefühl, als würde ich scharfkantige Glasscherben schlucken.«
»Glasscherben, hm?«
Leigh nickte, obwohl niemand sie sehen konnte. »Ja, ich schätze, es ist eine Infektion, das heißt, ich kann morgen vermutlich auch nicht kommen. Aber ich habe ja meinen Laptop hier und bin natürlich immer auf dem Handy zu erreichen.«
»Also dann, gute Besserung. Und es freut mich, dass wir so nett miteinander geplaudert haben.«
Ein stechender Schmerz im Nacken brachte sie wieder zu der Massage zurück, die sie unmittelbar nach dem Gespräch mit Henry vereinbart hatte. Sie zuckte zusammen.
»Oh, Entschuldigung«, sagte die Therapeutin. »War das zu fest?«
»Nein, nein, überhaupt nicht«, log Leigh. Sie wusste, dass es völlig in Ordnung war, während einer Massage Feedback zu geben, dass es albern war, einen Haufen Kohle hinzublättern und es dann nicht zu genießen oder, schlimmer noch, sich eine Stunde lang martern zu lassen. Aber ganz gleich, wie oft sie sich all dessen versicherte, Leigh brachte es nicht fertig, etwas zu sagen. Jedes Mal schwor sie sich, dass sie den Mund aufmachen würde, und jedes Mal biss sie die Zähne zusammen, wenn sie das Geknete zu fest, die Musik zu laut oder die Raumtemperatur zu kalt fand. Machte sie sich am Ende Sorgen, die Gefühle der Masseurin zu verletzen? Das wäre ja fast schon absurd. Ohne zu zögern den eigenen Verlobten betrügen, aber der bezahlten Fremden lieber nicht sagen, dass man es gerne etwas sanfter hätte! Leigh schüttelte angewidert den Kopf.
»Ich tue Ihnen weh, stimmt’s?«, fragte das Mädchen, dem Leighs Geste nicht entgangen war.
»Wehtun ist ehrlich gesagt untertrieben. Es ist mehr so, als würde man von einem Profiboxer verdroschen.«
Die Masseurin entschuldigte sich wortreich. »Ach Gott, das habe ich ja gar nicht geahnt. Es tut mir so leid. Ich kann auch sanfter massieren.«
»Nein, nein, Entschuldigung. Ich, äh, hab’s nicht so gemeint. Es, ähm, ist mir bloß so rausgerutscht. Alles in bester Ordnung«, sprudelte Leigh los. Warum konnte sie bloß nicht den Schnabel halten?
Am Morgen hatte die Massage sich nach einer guten Idee angehört - wenn sie
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