Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
wieviel zu zahlen die Leute gezwungen waren, die die Arbeit brauchten.“
„Das gebe ich alles zu“, sagte ich. „Aber trotz all seiner Mängel war es ein praktisches Verfahren, die Preise nach Angebot und Nachfrage zu regeln. Ich kann mir nicht denken, welchen befriedigenden Ersatz Sie dafür ausgeklügelt haben. Da der Staat der einzige Unternehmer ist, so kann natürlich weder von einem Arbeitsmarkt noch von einem Marktpreis die Rede sein. Die Regierung muß nach Willkür jeden Lohn festsetzen. Ich kann mir keine verwickeltere und heiklere Aufgabe vorstellen als diese Festsetzung, keine, die mehr geeignet wäre – mag sie nun gelöst werden, wie sie wolle –, allgemeine Un zufriedenheit hervorzurufen.“
„Verzeihen Sie“, sagte Doktor Leete, „aber mir scheint, daß Sie die Schwierigkeiten überschätzen. Nehmen Sie an, daß ein Ausschuß aus recht verständigen Männern damit beauftragt worden ist, die Löhne für alle Arten Arbeit festzusetzen. Das aber unter einer Gesellschaftsordnung, die wie die unselige bei freier Berufswahl jedem Beschäftigung verbürgt. Begreifen Sie nicht, daß Mißgriffe bei der ersten Abschätzung sich bald von selbst berichtigen müßten? Zu hoch entlohnte Berufsarten würden einen zu starken Andrang von Freiwilligen erfahren, zu niedrig bewertete hätten dagegen bald über Mangel an Arbeitskräften zu klagen. Das müßte andauern, bis der Fehler gutgemacht wäre. Aber dies nur nebenbei, denn obgleich die von mir angedeutete Regelung sicherlich möglich wäre, ist sie doch in unserer Wirtschaftsordnung nicht üblich.“
„Wie regeln Sie also die Löhne und Gehälter?“ frag te ich von neuem.
Doktor Leete antwortete erst, nachdem er etliche Augenblicke schweigend nachgedacht hatte. „Die alte Ordnung der Dinge ist mir natürlich genügend bekannt“, sagte er endlich, „so daß ich genau weiß, was Sie mit Ihrer Frage meinen. Allein die gegenwärtige Ordnung der Dinge ist von der Ihrer Zeit gerade in dem Punkte so grundverschieden, daß ich etwas verlegen bin, wie ich Ihre Frage am besten beantworten soll. Sie wollen wissen, wie wir die Löhne regeln. Ich kann Ihnen nur antworten, daß die moderne Nationalökonomie keinen Begriff kennt, der in irgendeiner Beziehung dem entspricht, was man zu Ihrer Zeit unter ‚Lohn’ verstand.“
„Sie wollen damit wohl sagen, daß Sie kein Geld haben, in dem der Lohn ausbezahlt wird?“ sagte ich. „Aber der den Arbeitern gewährte Kredit auf die staatlichen Vorräte entspricht unseren Löhnen. Wie bestimmt man die Höhe des Kredits, der den Arbeitern der verschiedenen Berufszweige eröffnet wird? Kraft welchen Rechts beansprucht der einzelne seinen besonderen Anteil? Welches ist die Grundlage der Verteilung?“
„Das Recht, auf das sich der einzelne beruft“, entgegnete Doktor Leete, „ist sein Menschentum. Sein Anspruch ist in der Tatsache begründet, daß er ein Mensch ist.“
„In der Tatsache, daß er ein Mensch ist!“ wiederhol te ich ungläubig. „Wollen Sie damit etwa gar sagen, daß alle einen gleich großen Anteil erhalten?“
„Nichts anderes“, lautete die Antwort.
Der Leser dieses Buches kennt aus eigener Anschauung keine andere als die jetzt bestehende soziale Ordnung. Nur aus geschichtlichen Studien hat er gelernt, daß in früheren Zeiten eine ganz verschiedene Wirtschaftsordnung bestanden hat. Er kann sich deshalb unmöglich das an Betäubung grenzende Staunen vorstellen, in das mich Doktor Leetes einfache Erklärung versetzte.
„Sie sehen“, sagte er lächelnd, „daß es uns nicht bloß am Gelde fehlt, um Löhne auszuzahlen. Wie ich Ihnen bereits sagte, kennen wir überhaupt nichts, was Ihrem Begriff von Lohn entspricht.“
Unterdessen hatte ich mich soweit erholt, daß ich einige kritische Einwände äußern konnte. Sie mußten mir als einem Manne des neunzehnten Jahrhunderts zuerst in den Sinn kommen, als ich von der verblüffenden neuen Ordnung der Dinge hörte.
„Manche Leute arbeiten noch einmal soviel als andere!“ rief ich aus. „Sind die geschickten Arbeiter mit einer Ordnung zufrieden, die sie auf eine Stufe mit den mittelmäßigen stellt?“
„Es gibt nicht den geringsten Grund, über Ungerechtigkeit zu klagen“, erwiderte Doktor Leete, „von allen wird genau das gleiche Maß von Leistungen gefordert.“
„Ich möchte wissen, wie das möglich wäre“, warf ich ein.
„Es gibt doch kaum zwei Leute, die genau das gleiche Leistungsvermögen haben!“
„Nichts ist einfacher
Weitere Kostenlose Bücher