Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
als das“, lautete Doktor Leetes Antwort. „Wir fordern von jedem das gleiche Bemü hen, das gleiche Bestreben; das heißt, wir verlangen von jedem die beste Leistung, deren er fähig ist.“
„Angenommen, daß alle das Beste leisten“, antwortete ich. „Nichtsdestoweniger wird das Arbeitsergebnis des einen noch einmal so groß als das des anderen sein.“
„Ganz richtig“, versetzte Doktor Leete. „Aber die Größe des Arbeitsergebnisses hat ganz und gar nichts mit unserer Frage zu tun. Diese dreht sich um das Verdienst des einzelnen. Das Verdienst ist ein moralischer Begriff, die Größe des Arbeitsergebnisses dagegen ein materieller. Es wäre eine ganz wunderbare Logik, wollte man einen moralischen Begriff an einem materiellen Maßstab messen. Der Grad des Bemühens allein entscheidet die Frage des Verdienstes. Alle, die nach ihren Kräften ihr Bestes leisten, leisten das gleiche. Die Begabung eines Menschen, und sei er noch so genial, bestimmt nur das Maß seiner Verpflichtungen. Ein hochbegabter Mensch, der nicht das volle Maß seines Könnens gibt, mag verhältnismäßig mehr leisten als ein weniger begabter Mann, der sein Bestes tut. Trotzdem wird man sein Verdienst geringer einschätzen als das des anderen, und nach der öffentlichen Meinung bleibt er bei seinem Tode seinen Mitmenschen viel schuldig. Der Schöpfer selbst weist den Menschen ihre Aufgaben durch die verliehenen Fähigkeiten. Wir fordern von ihnen nur Erfüllung dieser Aufgaben - .“
„Das ist sicherlich sehr edel gedacht“, sagte ich. „Nichtsdestoweniger erscheint es hart, daß, wenn zwei ihre volle Schuldigkeit tun, beide den gleichen Anteil am Nationaleinkommen haben, auch wenn der eine zweimal soviel als der andere leistet.“
„Erscheint Ihnen dies wirklich hart?“ antwortete Doktor Leete. „Mir hingegen erscheint Ihre Auffassung höchst seltsam. Heutzutage faßt man die Sache so auf: jemand, der mit Aufbietung all seiner Kräfte zweimal soviel als ein anderer leisten kann, darf nicht dafür be lohnt werden, wenn er es tatsächlich tut; dagegen müß te er von Rechts wegen bestraft werden, wenn er es unterläßt. Ich vermute, daß man im neunzehnten Jahrhundert der Logik zuliebe ein Pferd dafür belohnte, daß es eine schwerere Last zog als eine Ziege. Wir dagegen würden es schlagen, wenn es keine schwerere Last ziehen wollte. Da das Pferd bei weitem stärker ist als eine Ziege, kann und muß es mehr leisten als sie. Es ist sonderbar, wie sich der ethische Maßstab ändern kann.“ Der Doktor begleitete diese Worte mit einem so komischen Augenzwinkern, daß ich lachen mußte.
„Meiner Vermutung nach“, sagte ich, „hatte es einen ganz bestimmten Grund, weshalb wir die Menschen ihren Fähigkeiten entsprechend belohnten, während wir das Leistungsvermögen der Pferde und Ziegen nur als Maßstab für die von ihnen geforderten Arbeiten gelten ließen: als vernunftlose Geschöpfe leisteten die Tiere von selbst das Beste, was sie vermochten, die Menschen dagegen gaben nur das volle Maß ihres Könnens, wenn man sie nach der Größe ihrer Leistung belohnte. Und dies veranlaßt mich zu der Frage, ob nicht auch in der heutigen Gesellschaft die nämliche Notwendigkeit fortbesteht? – es sei denn, daß sich die menschliche Natur in diesen hundert Jahren von Grund aus gewandelt hat.“
„Gewiß, sie besteht“, erwiderte Doktor Leete. „In dieser Beziehung dürfte sich die menschliche Natur seit Ihrer Zeit kaum geändert haben. Sie ist noch immer so beschaffen, daß der Durchschnittsmensch durch Belohnungen, Auszeichnungen oder winkende Vorteile angefeuert werden muß, damit er seine Kräfte in irgendeiner Richtung auf das höchste anspannt.“
„Aber wie kann jemand zur Aufbietung seiner besten Kräfte angefeuert werden“, so fragte ich, „wenn sein Einkommen gleich groß bleibt, mag er viel oder wenig leisten? Wohl mögen edle Charaktere dem Gemeinwohl zuliebe das volle Maß ihres Könnens geben. Der Durchschnittsmensch dagegen wird in Ihrer Gesellschaftsordnung dazu neigen, mit seinen Leistungen hinter seinem Können zurückzubleiben. Er folgert einfach, daß sein Bemühen zwecklos sei, da keine Anstrengung sein Einkommen vergrößert und keine Lässigkeit es verkleinert.“
„Scheint es Ihnen tatsächlich“, antwortete mein Gefährte, „daß die menschliche Natur keinen anderen Beweggründen gehorcht als der Furcht vor dem Mangel und der Liebe zum Wohlleben? Daß folglich mit der gewährten Sicherheit und
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