Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Vorschlag war mir äußerst angenehm. Da Edith mir freundlich versicherte, meine Begleitung sei ihr willkommen, so verließen wir zusammen das Haus.
10. Kapitel
Besuch im Warenhaus
Als wir durch die Straßen schritten, sagte meine Begleiterin: „Wenn ich Ihnen erklären soll, wie wir uns mit allem versorgen, was wir brauchen oder wünschen, so müssen Sie mir vorher erzählen, wie dies zu Ihrer Zeit- geschah. Soviel ich auch darüber gelesen habe, ist es mir doch nie möglich gewesen, mir ein klares Bild davon zu machen. Zum Beispiel: Wenn es zu Ihrer Zeit eine so große Anzahl von Läden mit einem besonderen und reichhaltigen Warenlager gab, wie konnte sich da eine Frau zum Kauf entschließen, ehe sie nicht alle Läden besucht hatte? Denn früher konnte sie doch unmöglich wissen, was zur Auswahl vorhanden war.“
„Ihre Vermutung stimmt“, antwortete ich; „es war die einzige Art, wie sie dies erfahren konnte.“
„Mein Vater behauptet, daß ich unermüdlich die Warenhäuser besuche. Ich würde aber bald todmüde sein, wenn ich in so vielen Läden herumlaufen müßte wie Ihre Zeitgenossinnen, um das Gewünschte zu finden“, gab Edith lachend zur Antwort.
„Die arbeitenden Frauen klagten bitter darüber, daß ihnen bei den Gängen von Laden zu Laden viel Zeit verlorenginge“, sagte ich. „Die Frauen der müßigen Gesellschaftsklassen bedauerten zwar auch den Zeitverlust, doch glaube ich, daß er für sie in Wirklichkeit ein Geschenk des Himmels war: wie hätten die Damen wohl sonst die Zeit totschlagen sollen?“
„Aber nehmen wir an, daß sich in einer Stadt tausend Läden befanden, davon vielleicht hundert der nämlichen Art. Wie konnten da selbst die größten Müßiggängerin nen Zeit finden, durch alle die Runde zu machen?“
„Natürlich war es niemand möglich, sämtliche Läden zu besuchen“, antwortete ich. „Wer viel einkaufte, lernte mit der Zeit, in welchen Läden er wohl das Gewünschte finden würde. Solche Leute hatten aus der Kenntnis der Geschäftsspezialitäten eine eigene Wissenschaft gemacht, so daß sie vorteilhaft einkauften und für das wenigste Geld die meiste und beste Ware erhielten. Aber nur durch lange Erfahrungen konnten diese Kenntnisse erworben werden. Wer zu beschäftigt war oder zu wenig einkaufte, um Bescheid zu wissen, ließ sich bei seinen Anschaffungen vom Zufall leiten. So ging es den meisten. In der Regel hatten sie beim Einkaufen kein Glück, für die schlechtesten Waren mußten sie die teuersten Preise zahlen. Es war der reine Zufall, wenn Unerfahrene preiswürdige Waren bekamen.“
„Aber warum ließen sich die Leute so jämmerliche Zustände gefallen, wenn die Mängel so klar zutage tra ten?“ fragte meine Begleiterin.
„Es verhielt sich damit wie mit allen unseren gesellschaftlichen Einrichtungen“, versetzte ich. „Sie können heutzutage Ihre Mängel schwerlich klarer sehen, als wir sie damals sahen, nur wußten wir nicht, wie ihnen abzuhelfen sei.“
„Hier sind wir am Warenhaus unseres Bezirks“, sag te Edith, als wir durch das mächtige Portal eines der prachtvollen öffentlichen Gebäude schritten, die mir während meiner Morgenwanderung aufgefallen waren. Nichts, aber auch gar nichts in dem Äußeren des Baues erinnerte einen Bürger des neunzehnten Jahrhunderts an ein Kaufhaus. In den großen, breiten Fenstern war keine Auslage, keine Plakate zeigten Waren an oder suchten Kunden anzulocken. Das Gebäude hatte keinerlei Schild oder Aufschrift, aus der man auf die Art des dort betriebenen Geschäfts hätte schließen können. Dagegen hob sich von der Front über dem Portal eine majestätische Marmorgruppe lebensgroßer Figuren ab, deren Mittelpunkt eine weibliche Gestalt bildete: die Fruchtbarkeit mit dem Füllhorn. Nach der ein- und ausströmenden Menge zu urteilen, befanden sich wie im neunzehnten Jahrhundert mehr Frauen als Männer unter den Besuchern des Kaufhauses. Als wir eintraten, sagte Edith, daß jeder Bezirk der Stadt sein großes Vorratshaus zur Verteilung der Güter habe, niemand brauche von seiner Wohnung aus mehr als fünf bis zehn Minuten zu gehen, um zu dem Warenhaus seines Bezirks zu gelangen. Zum erstenmal sah ich das Innere eines öffentlichen Gebäudes des zwanzigsten Jahrhunderts, und sein Anblick machte natürlich einen tiefen Eindruck auf mich. Ich befand mich in einer gewaltigen Halle, der eine Fülle von Licht zuströmte, und zwar nicht nur von den Seiten durch die Fenster, sondern auch von oben her, durch
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