Ein Schlag ins Herz
Die letzten Konferenzteilnehmer setzten sich auf ihre Plätze, und die Ober eilten hin und her. Ihr höfliches Lächeln verriet nicht den Druck, unter dem das gesamte Personal arbeitete. Eine so erlesene Gästeschar hatte das Jaeger Skärgården noch nicht gesehen – und das würde es auch so schnell kein zweites Mal.
Unter den hundert Gästen waren nur wenige Frauen. Viele der Männer hatten ihre Jacketts abgelegt und über die Rückenlehne gehängt, als wollten sie so den inoffiziellen Charakter der Veranstaltung betonen. Alle im Saal wussten, dass hier die kleine Bruderschaft der weltweit wirklich Mächtigen versammelt war. Dieser Umstand schuf eine einzigartige, kollegiale Atmosphäre.
Als schwedische Gastgeber fungierten die Vertreter des Industrie- und des Bankenzweigs des Wallenberg-Imperiums, die auf eine lange Bilderberg-Tradition zurückblicken konnten. Bald würden die Redebeiträge beginnen, und niemand musste befürchten, dass etwas davon nach draußen sickerte oder in den Medien zitiert wurde. Dennoch würden sich die vorgetragenen Ansichten in den kommenden Monaten in Reden von Politikern und in Leitartikeln auf der ganzen Welt wiederfinden und dadurch zur Bildung der globalen Meinung beitragen. Die Lage der Weltwirtschaft sowie Fragen zum Klima und der Energieversorgung waren traditionell Themen der Diskussion. Ein Aspekt, der Jahr für Jahr ebenfalls heftig debattiert wurde, war die militärische Rolle der EU innerhalb der NATO.
Diesmal entfachte jedoch die Lage in Estland eine spontane Diskussion. Seit ihrer ersten Veranstaltung 1954 war die Bilderberg-Konferenz eng mit dem Atlantischen Pakt verknüpft, und jetzt war die NATO im Begriff, in Estland in eine komplizierte Vermittlerposition zu geraten.
»Bereit zum Zünden in genau fünf Minuten«, flüsterte Sandrine auf dem Dachboden.
Herman drückte auf den Knopf an seiner Armbanduhr, und die im Halbdunkel leuchtenden Sekunden begannen zu laufen.
Schnell öffnete er die Bodenluke und nickte Jochem nach unten zu, der daraufhin nach der großen Banderole griff, die an der Wand lehnte.
Geir stieg die Leiter hinab und nahm die schwere Stoffrolle von Jochem in Empfang. Jörg und Herman folgten. Die Männer gingen an eine Wand des fast ganz dunklen Lagerraums und legten die Banderole auf dem Fußboden ab. Geir entfernte ein lockeres Stück der Wandverkleidung, schob eine Hand hinein und zog Ausrüstungsgegenstände hervor, von deren Existenz Sandrine nichts wusste.
Sandrines Puls beschleunigte zunehmend, je niedriger die Zahlen auf der Anzeige wurden. Sie umklammerte den Fernauslöser, hielt den Daumen aber weg vom Knopf, um ihn nicht aus Versehen zu früh zu drücken.
Nach all dem Planen und Vorbereiten war es kaum zu glauben, dass nun der Zeitpunkt für ihren Coup gekommen war. Herman und seine Leute würden verschwinden, sobald sie ihren Auftrag erfüllt hatten, und Sandrine sollte das auch tun. Aber noch war sie unentschlossen – es würde ihr nicht unbedingt leidtun, wenn sie nicht rechtzeitig fliehen könnte. Sie war bereit, die Konsequenzen für die Aktion zu tragen, und sei es vor Gericht. Allerdings würden die Bilderberg-Leute versuchen, ein Verfahren zu vermeiden, denn Öffentlichkeit war das Letzte, was sie wollten.
Sandrine sah auf die Uhr und legte den Daumen auf den Knopf des Fernauslösers.
Das Wachssiegel an der Tür des Lagerraums brach, und vier Männer schoben sich im obersten Stockwerk des Hotels auf den Gang.
Jörg huschte an einer Ritterrüstung vorbei und eilte auf dem weinroten Teppich lautlos zur bombastisch breiten Treppe. Herman und Jochem, der seine halblangen Haare mit Gel nach hinten gekämmt hatte, blieben vor den Aufzügen stehen, und Herman drückte auf den Knopf mit dem leuchtenden Pfeil.
Mit einem Obstkorb in der Hand ging Geir zu der schmaleren Treppe am anderen Ende des Flurs, die einst für die Dienstboten vorgesehen gewesen war. Zwei Stockwerke tiefer kam ihm ein Mann entgegen, den er als einen der Sicherheitsleute der Bilderberg-Konferenz identifizierte.
Geir nickte freundlich, als er an dem breitschultrigen Mann vorbeiging.
»He, warten Sie!«, sagte der plötzlich.
Geir blieb stehen und drehte sich um.
Der Mann kam mit einem Scanner in der Hand auf ihn zu und legte das Gerät auf die I D-Karte mit dem Strichcode, die an Geirs Revers befestigt war.
Der Scanner reagierte nicht. Der Sicherheitsmann sah Geir ins Gesicht.
Blitzschnell schob Geir eine Hand in den Obstkorb und zog
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