Ein Schnupfen hätte auch gereicht. Meine zweite Chance
selber war, und zum anderen zeigte ihre Reaktion aber auch, dass es keinen Grund gab, nur wegen meiner verbeulten Gesichtsbaracke so einen Aufstand zu machen! Ich habe fast ein Jahr später einen Film von der kleinen Zita gesehen, wie sie mit aller Ernsthaftigkeit und dem reinen Herzen eines Kindes Gott in ihrem Nachtgebet bittet, mich wieder gesund zu machen. Das hatte sich so bei ihr als Ritual eingebürgert, seitdem Till mit ihr in der Kirche gewesen war, um Kerzen für mich anzuzünden und zu beten. Till hatte sogar ein richtig schlechtes Gewissen, sie dabei zu filmen, aber er wollte mir unbedingt diesen Film zeigen, falls mir mal der Überlebenswille abhandengekommen wäre. Er ist mir nicht abhandengekommen – auch wenn er manchmal nur auf Sparflamme kocht –, aber dieses kleine Menschenkind für mich beten zu sehen, hat mich tief berührt und mein olles Narbenherz enorm gewärmt.
Gefangen in der Gefühlsachterbahn
Nach diesem Schicksalsschlaganfall war ich ja sowieso stets in einer Art Gefühlsoverload-Modus. Himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt. Und permanent im Wechselbad der Gefühle. Mal war ich sagenhaft berauscht vor Glück: »Oh wie schön, ich habe überlebt!« Und dann kam sofort der brutale Nackenschlag: »Scheiße, ich bin ein behindertes Wrack!« So wurde ich von meiner eigenen Gefühlsachterbahn hin- und hergerissen. Ohne Unterbrechung, nonstop. Ich hatte ja genug Zeit im Krankenhaus. Alles habe ich im Zweifeln erlebt. Wenn ich versucht habe, Dinge und Erlebnisse aus der Vergangenheit zu rekonstruieren, habe ich mir immer die bange Frage gestellt: Habe ich wichtige Sachen vergessenen? Stimmt das denn jetzt so? Hat der Anfall alles durcheinandergebracht? Teile komplett von meiner Hirnfestplatte gelöscht? Bin ich ein körperliches Wrack mit dem Arbeitsspeicher eines Teletubbies? Was kommt da eigentlich noch fürn Driss auf mich zu? Wovon werde ich leben, wie werde ich leben, was ist mit meinem Beruf, wie soll ich Geld verdienen, was wird denn bloß aus mir und meiner Familie?
Ist ja auch klar: Da kommen sie alle an dein Bett, Familie, Freunde und Bekannte. Und sie weinen und erzählen dir, was du für ein Glück gehabt hast. Weil du ja noch lebst. Aber wie ich lebe, und ob ich darüber glücklich bin, dass ich so leben muss, steht auf einem ganz anderen Blatt. Auf meinem nämlich. Ich weiß, dass bei mir eine Menge Schutzengel Überstunden gemacht haben. Es ist mir völlig klar, dass viele andere Menschen so einen schweren Schlaganfall (oder amtlich beglaubigt ausgedrückt: Mediteritorialinfarkt rechtsseitig, also »de schäl sick«) nicht überlebt haben oder zum Teil nur als schwerste Pflegefälle ohne jegliche Lebensqualität. Trotzdem kann ich mich nicht immer von dem Gedanken befreien, dass ich mir so oft wünsche, dass dieser verfluchte, drecksdrisselige Anfall besser nie passiert wäre. Manchmal fühle ich mich gefangen in dieser Gefühlsachterbahn zwischen Dankbarkeit und Verzweiflung. Und wer das nicht verstehen will, dem sage ich es ganz deutlich, für alle Schönsülzer zum Mitschreiben: Try walking in my shoes! Oder auf gut DEUTSCH : Wer will in meinen Schuhen laufen? Ich ganz alleine muss in erster Linie damit fertig werden, dass ich nicht mehr die bin, die ich mal war. Dass ich zum Teil einfach keine Entscheidungsgewalt mehr über meinen Körper habe, egal, wie sehr ich mich auch bemühe. Dass ich in vielen Situationen so hilflos bin, ist eine demütigende Erfahrung. Jeder Mensch versteht unter Lebensqualität etwas anderes, und ich lasse mir von niemandem – nicht mal von mir selber! – einreden, dass meine körperlichen Behinderungen durch den Schlaganfall eine Art Bagatellschaden sind, über den ich großzügig hinweglachen kann, weil ich ja sowieso so ein lustiger Mensch bin! Ich kann nur jedem empfehlen: Einfach mal einen Arm und ein Bein »unbeweglich machen« und den Rest des Tages im Rollstuhl verbringen. Am besten ohne Vorbereitung, denn ich hatte auch keine Zeit, mich auf diesen Schlamassel vorzubereiten. Ich wurde genauso überrascht wie Josef von den Heiligen Geist-Hörnern, die Maria ihm aufgesetzt hatte. Entschuldigung, aber ich hatte mich die letzten 40 Jahre selber gewaschen, und fand diesen Zustand eigentlich auch nicht sonderlich änderungsbedürftig! Ich konnte sogar meine Geschäfte selber erledigen! Was würden Sie denn denken, wenn Sie auf einmal auf der Bettpfanne sitzen und darauf warten müssen, dass Schwester Kathy Sie wieder fein saubermacht?
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