Ein schöner Ort zu sterben
Morgenmantel aus heller Seide, der mit Dutzenden purpurroter Schmetterlinge im Flug bestickt war, stolperte Lilliana Zweigman ins Zimmer. Sie streckte die Hände aus und befühlte wie ein Feldarzt auf der Suche nach verborgenen Verletzungen Gesicht und Schultern ihres Mannes.
»Wir haben Besuch.« Mit nichts gab Zweigman zu erkennen, dass ihm das Verhalten seiner Frau auch nur im Geringsten seltsam vorgekommen wäre. »Würdest du so nett sein und uns eine Kanne Tee machen. Und bring uns doch auch ein paar von deinen vortrefflichen Butterkeksen.«
»Ist er …?«, murmelte Lilliana. »Er ist …?«
»Nein, ist er nicht. Der Detective ist ein Büchernarr, und wir sprachen gerade über unsere Lieblingsschriftsteller. Nicht wahr, Detective?«
»Ja.« Emmanuel griff sich das nächstbeste Buch und hielt es hoch. Seine Schulter schrie protestierend auf, aber er ließ sich nichts anmerken. »Ich hatte gehofft, ich könnte dieses Bändchen für ein paar Tage ausleihen.«
»Ach so …« Jetzt, wo die Gefahr vorbei war, hellte sich Lillianas Miene auf wie eine Lötlampe. »Ja, natürlich. Ich gehe den Tee machen.«
Sie glitt aus dem Zimmer, und Emmanuel konnte nur staunen über die Fähigkeit des menschlichen Geistes, die Wirklichkeit nach seiner Vorstellung zu formen. Da saß er mit blutverschmierter Hose, halb offenem Hemd und dem Bestimmungsbuch Pilze und Sporen in der Hand in Zweigmans Haus, und doch hatte Lilliana beschlossen zu glauben, dass es sich um einen Höflichkeitsbesuch handelte.
»Die Schulter«, fuhr Zweigman fort, als wären sie nicht unterbrochen worden. »Darf ich die bitte sehen?«
Langsam zog Emmanuel sein Hemd aus, und sofort pochte in seinen Muskeln ein heißer Schmerz. Der Nachtwächter würde dem gestrandeten Wal Fernandez berichten können, dass er dem Dieb eine ordentliche Tracht Prügel verabreicht hatte.
»Eine alte Schusswunde, und darüber ein frischer Bluterguss. Ich werde Sie nicht fragen, wo Sie sich derart ernste Verletzungen zugezogen haben.« Zweigman tastete mit den Fingern die Ränder der Prellung ab. »Arnika, damit die Schwellung zurückgeht, und Schmerztabletten, damit die Schmerzen aufhören. Den Rest besorgt irgendwann die Natur.«
Der Arzt fischte aus dem Durcheinander seine Tasche hervor, klappte sie auf und kramte darin herum. Schließlich holte er ein Pillendöschen heraus und schüttete vier Tabletten in seine Hand.
»Kauen und mit Tee schlucken«, ordnete er an und holte dann aus seiner Tasche ein Gefäß mit Salbe hervor. »Reiben Sie bitte mit dieser Salbe Ihre Schulter ein. Ich werde derweil eine Waschschüssel und das Nähkörbchen meiner Frau suchen.«
Während der Arzt gebeugt das Zimmer verließ, tauchte Emmanuel seine Finger in das Glas und rieb seine Schulter ein. Der alte Jude hatte recht. Durch den Schlagstock waren die Schmerzen seiner alten Verwundung wiedergekehrt.
Zweigman trat wieder ins Zimmer und stellte neben dem Grammofon eine Schüssel ab. Jede seiner Bewegungen verriet eine solche Selbstsicherheit, dass Emmanuel sich erneut fragte, wie der alte Jude und seine Frau ausgerechnet in Jacob’s Rest hatten landen können.
»Woher hat der Captain gewusst, dass Sie Arzt sind?«, fragte er.
Der Deutsche tauchte einen Lappen in die Schüssel und begann damit, die Wunde zu säubern. »Das haben Sie mich schon einmal gefragt, und ich habe Ihnen geantwortete, dass ich es nicht weiß.«
»Er muss es wegen irgendeiner Sache erfahren haben, die letzten April passiert ist. Was ist da passiert?«
»Ich kann mich an keinen Vorfall erinnern, Detective.« Während er sprach, griff Zweigman nach einer Pinzette und begann, damit, in der Wunde herumzustochern. »Bitte stillhalten. Ich habe die Quelle Ihres Unbehagens gefunden. Hier.«
Er hob die Pinzette hoch und präsentierte eine schartige Glasscherbe. »Auch diesmal werde ich Sie nicht fragen, wo Sie die herhaben.«
»Sehr freundlich von Ihnen. Leider kann ich mich nicht revanchieren.«
Darauf antwortete der Arzt nicht, sondern nahm sich stattdessen das Nähzeug. Irgendwann im Verlauf seiner persönlichen Katastrophe hatte er gelernt, den Mund zu halten. Freiwillig würde er nichts preisgeben.
»Welcher der farbigen Frauen hat der Captain besonders nahegestanden?«, fragte Emmanuel ohne Vorwarnung. Er achtete darauf, wie der Arzt reagierte.
»Nahegestanden?« Zweigman bot eine erstklassige Vorstellung des mittellosen Migranten, der zum ersten Mal die englische Sprache vernahm. »Was bedeutet das,
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