Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
an sich.“
Ich schmunzelte, nahm meinen Löffel und tauchte ihn in die herrlich nach Kräutern und Gemüse duftende Suppe, die Ailsa und Milly als Vorspeise aufgetischt hatten.
Als Hauptgang sollte es Rehrücken geben. Doch bevor dieser auch nur im Entferntesten meinen Teller erreichte, ging die Tür auf, und Ryan stand auf der Schwelle. Er sah mitgenommen aus, doch der Anzug saß tadellos. Milly hielt mitten im Tranchieren inne und stemmte die Hände mitsamt dem Besteck in die Hüften. „Ach!“, sagte sie. „Etwas spät, aber immerhin.“
Ryan murmelte etwas Unverständliches, wich meinem Blick aus und setzte sich zu Severíne. Sie strich ihm mit ihrer Hand zärtlich über die Wange, und ich spürte deutlich den Stachel der Eifersucht. Ryan hob den Kopf, für einen Moment sah er mir in die Augen. Dann blickte er zur Seite, lächelte Severíne an und nickte Lucas und Finn zu. Marlin nahm er gar nicht zur Kenntnis. Ich bemerkte, dass Finn kurz darauf zu uns herübersah und so tat, als hätte er Schüttelfrost. Gleich darauf hörte ich Marlins leise, überraschte Worte: „Aye, da frieren dem Teufel doch die Eier ab.“
Nach dem Dessert – in Scotch eingelegte Pfirsiche mit Trüffelsahne – erhoben sich nacheinander alle und wanderten in den angrenzenden Raum, um sich bei Single Malt, Zigarren und Pralinen vom Essen zu erholen. Als ich ebenfalls hinübergehen wollte, hielt mich Marlin zurück und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Er führte mich hinaus auf den Korridor, und wir gingen in Richtung Treppenturm. Dort drehte er sich zu mir und sah mich fragend an. „Denkst du, ich kann dich jetzt allein lassen?“
„Du willst gehen?“
„Ach, Jo“, sagte er und strich mir sanft über die Arme. „Von wollen ist gar keine Rede, aber ich möchte nicht schuld sein, wenn Ray an Verstopfung zugrunde geht. Das wäre zu einfach.“
„Sag nicht so etwas. Er ist dein Bruder. Aber du hast recht. So wie er aussieht, ist seine Selbstbeherrschung kurz davor, sich zu verabschieden.“
Marlin lächelte mich an. „Ich habe Angst, dass er platzt wie ein zu hart aufgepumpter Reifen, wenn ich noch länger bleibe.“
„Sehen wir uns morgen?“, fragte ich.
„Natürlich! Ich würde dich ja bitten, mit mir ins Cottage zu kommen, aber …“
„Nein. Ist schon gut. Geh ruhig! Ich komme klar.“
„Absolut?“
„Absolut“, wiederholte ich. „Ich werde mich mit der toten Meerjungfrau ins Bett legen und darauf warten, dass das scheußliche Jucken aufhört.“
Marlin lachte leise auf, legte seine Hände vorsichtig um mein Gesicht und küsste mich. „Gute Nacht, kleine Jo.“
„Gute Nacht!“
Ich schaute zu, wie er die Treppen hinabstieg, und fühlte mich auf einmal ziemlich allein.
Zurückzugehen zu den anderen und zuzusehen, wie Severíne sich in ihrer Vollkommenheit sonnte und an Ryans Lippen hing, kam nicht in Frage. Also wanderte ich durch die Gänge der Burg und versuchte meine Lage objektiv von allen Seiten zu betrachten. Vergeblich. Ich fühlte mich, als wäre ich in ein Netz geraten, aus dem ich mich nur befreien konnte, wenn ich einen Teil von mir lostrennte. Oh Himmel! Was für eine verfahrene Situation! Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Ja, und dann?, fragte meine innere Stimme. Ja, und dann? Wenn ich den gestrigen Tag noch einmal durchleben könnte, würde ich es wirklich anders machen? Ja, natürlich!, überlegte ich. Oder? Nein, es war ausgeschlossen, dass ich mich bei dem Anblick einer Severíne, die an Ryans Lippen klebte, in Gelassenheit übte.
Aber hätte ich dann … Oh Marlin!, dachte ich. Unvergleichlicher Marlin! Ich schüttelte den Kopf. Mit „wenn“ und „hätte“ kam ich also nicht weiter.
„Jo!“
„Ja?“ Ich drehte mich um. „Hallo?“
„Jo!“
„Ja, ich bin hier!“, rief ich und lief den Gang zurück.
„Jo!“
Ich schoss herum und starrte den leeren Korridor an. „Ryan? Bist du das?“ Langsam ging ich auf eine der Türen zu und öffnete sie. Das Licht war an, aber es war niemand da.
„Jo!“, erklang es nun von gegenüber.
„Ryan! Das ist nicht witzig!“, knurrte ich, riss die gegenüberliegende Tür auf und schaltete das Licht ein.
Kein Ryan und auch sonst niemand – trotzdem hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. „Wer ist da?“, fragte ich, und wie auf Bestellung ging die Beleuchtung in beiden Zimmern und auf dem Korridor aus.
Ich stand im Dunkeln, die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Ich spürte einen kalten Luftzug –
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