Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
Ryans Stimme trotz der dicken Mauern und der schweren Holztür vom Korridor bis zu mir herein, und ich fuhr erschrocken aus dem Schlaf, in den ich mich geweint hatte.
„Ich will, dass du von hier verschwindest!“, bellte er.
„Wenn ich zu ihr möchte“, entgegnete Marlin mit einem Unterton, der mir die Nackenhaare aufstellte, „frage ich dich nicht um Erlaubnis. Und jetzt lass mich vorbei!“
„Sie will dich gar nicht!“
„Oh, Brüderchen! Sie hatte mich schon.“
„Diolain!“ Es krachte an der Tür, als wäre etwas Schweres dagegen gefallen, dann polterte es, und schlussendlich ertönte Milly MacDonalds beste Feldmarschallstimme.
„Schluss jetzt!“, brüllte sie. „Ihr benehmt euch wie Kinder! Streitet euch um ein Spielzeug! Dieses Mädchen ist kein Spielzeug! Und jetzt ab mit euch! Alle! Na los!“
„Ryan! Mon cher, bitte! Lass ihn!“, rief Severíne.
„Genau! Hör auf deine kleine Comtesse, Bruder! Komm schon! Du weißt doch, wenn sie einem Mann den letzten Tropfen Blut ausgesaugt hat, lässt sie ihn ohnehin wieder fallen.“
„Marlin! Jetzt ist es genug.“
Was, dachte ich, Rupert auch noch? Da öffnete sich auch schon die Tür, und Marlin trat ein. Sein langes Haar war halb aus dem Band gerissen, mit dem er es zusammengebunden hatte, und hing ihm zerzaust ins Gesicht. Er strich es zur Seite und sah mich an. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Du siehst aus, als ob du reif zum Pflücken bist.“
„Kannst du mir mal sagen, was da draußen vor sich geht?“
„Ach, du kennst das doch. An Weihnachten und anderen Festtagen hat sich die Familie immer in den Haaren.“
„Mir ist nicht nach Lachen zumute“, erklärte ich.
„Entschuldige!“, sagte er, setzte sich neben mich und nahm vorsichtig meine Hand. „Wie geht es dir?“
„Marlin! Warum hast du nichts gesagt? Wenn ich gewusst hätte, dass du und Ryan …“
„Eben“, unterbrach er mich und nickte. „Wenn ich es dir gesagt hätte, wärst du gegangen – und ich wollte nicht, dass du gehst.“ Er strich sich über den Mund, lachte kurz und bitter auf und blickte mich an. „Zuerst dachte ich, na mal sehen, was das für eine kleine Sassenach ist, die Ryan hier angeschleppt hat. Doch dann …“ Er küsste kurz meine Hand und hob den Kopf. „Du warst nicht das, was ich erwartet habe.“
Gott, hab Erbarmen! Zwei Brüder – zwei Helden!
„Oh, Marlin!“, wimmerte ich, weil mir vor Rührung und Verzweiflung die Tränen kamen.
„Hey! Nicht weinen, Kleines!“, rief Marlin leise, setzte sich zu mir aufs Bett und wischte mir zärtlich die Tränen von den Wangen. „Ist schon okay!“
„Nichts ist okay!“, rief ich schluchzend aus. „Du bist so wunderbar und Ryan … Ryan ist …“
„In dich verliebt, vermute ich ganz stark“, beendete er meinen Satz und reichte mir ein Kleenex.
Ich zuckte hilflos mit den Schultern, griff nach dem Taschentuch und putzte mir die Nase.
„Und du?“, fragte er.
„Ich? Ich bin furchtbar! Ich verdiene es gar nicht, dass du so lieb zu mir bist.“
„Danach habe ich nicht gefragt.“
Das war mir klar, aber ich konnte ihm beim besten Willen keine Antwort geben. „Ich … ich weiß es nicht, Marlin. Und ich will dich nicht belügen.“
„Das ehrt dich“, antwortete er und nickte. Dann küsste er mir sanft Stirn und die Nase und schaute mir tief in die Augen. „Er wird dir nicht so schnell vergeben können. Selbst wenn er es wollte.“
„Ja, ich weiß.“
Er nickte und atmete lächelnd aus. „In Ordnung!“, rief er und erhob sich. „Ich hoffe doch, du erlaubst mir, um deine Gunst zu kämpfen, Mylady“, sagte er und begutachtete schmunzelnd die prunkvollen Draperien und Schnitzereien an meinem King-Size-Himmelbett.
„Über so etwas macht man keine Scherze, Marlin. Schon gar nicht in so einem gestelzten Ton.“
„Doch, Jo. Bei all dem Pomp hier ist so eine Ausdrucksweise durchaus angebracht. Ich habe jahrelang in solchen Betten geschlafen. Ich weiß, wovon ich rede. Außerdem …“ Er warf mir ein breites, unverschämtes Grinsen zu. „Du weißt, wir sind Schotten, Jo! Barbaren! Sei froh, dass ich dich nicht raube und dich zwinge, meine Frau zu werden. Die Ehe haben wir ja schließlich schon vollzogen.“
„So unzivilisiert bist du nicht.“
„Das stimmt. Darüber hinaus trägst du zurzeit eine Farbe, die dir nicht steht. Dagegen müssen wir etwas tun.“ Er holte einen kleinen Keramiktopf aus dem Beutel, den er mitgebracht hatte, und stellte ihn auf meinen
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