Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
die Fischer wohlbehalten heimkehren oder an den Gestaden Schottlands zugrunde gehen.“ Er blieb plötzlich stehen und wies auf ein Gemälde, auf dem eine Frau mit wehendem Kleid und Haar auf einem Felsvorsprung stand, die Hände ausgebreitet, und zusah, wie ein Boot an den darunterliegenden Klippen zerschellte. Ja, sie hatte Ähnlichkeit mit Severíne.
„Selkies“, sagte ich. „ Brownies , Glaistigs – oder wie die heißen. Weißt du, Ryan? Es ist kein Wunder, dass hier Gespenster umgehen, das war mir schon an dem Tag klargeworden, als wir hierhergefahren sind.“
Neben diesem Gemälde hing jenes, das Rupert uns an unserem ersten Tag gezeigt hatte: die nackte Selkie am Strand.
„John Fallon Fraser“, murmelte ich, da mein Blick plötzlich auf das kleine Schild darunter fiel. „Hey! Ryan? Pastor Livingston hat mir gesagt, dass dieser John Fallon Fraser damals Annie Guthrie porträtiert hatte. Ob es das ist?“
„Ich denke nicht, Jo. Das da auf dem Bild ist eine Silkie und nicht deine Annie.“
„Vielleicht war meine Annie eine Selkie“, meinte ich und lächelte.
Ryan lachte leise auf und schlang seinen Arm um mich.
„Ach, Joanna! Manchmal glaube ich, du selbst bist eine Silkie . Einige Eigenschaften, die ihnen zugesprochen werden, treffen auch auf dich zu.“
„Die da wären?“
„Nein, das sage ich lieber nicht. Es ist gerade so schön friedlich.“
Der Geist spielt
Das Unwetter tobte noch spät in der Nacht und schien in seinem Treiben nicht müde zu werden. Der Wind drang in die Spalten und Ritzen des Mauerwerks und sang ein klagendes Lied, das hin und wieder von leisem Gemurmel, Gelächter und dem Knistern des Kaminfeuers begleitet wurde. Wir hatten uns alle vor dem Wetter in die Wohnräume zurückgezogen. Ich hatte mir Annies Briefe geholt und es mir mit einem Single Malt, der angenehm weich schmeckte und ein wenig nach Kirschlikör duftete, in einem der Sessel gemütlich gemacht. Lucas und Malcolm saßen neben mir an einem kleinen Tischchen und spielten Scrabble, während Ryan und Finn mit Rupert seit Stunden um den großen Tisch im Esszimmer herum hockten und ihre Köpfe über uralten Burgskizzen zusammengesteckt hatten, die am Morgen per Kurier aus Edinburgh gekommen waren.
Obwohl es draußen alles andere als friedlich zuging, durchströmte mich ein schwereloses Gefühl. Zuerst konnte ich es nicht richtig einordnen, doch dann erkannte ich es – Zufriedenheit. Ich lächelte still vor mich hin und blickte zur Seite.
„ Z-zigzag .“ Malcolm kicherte und legte ein A und ein weiteres G auf das Brett.
„Das ist kein Wort“, sagte Lucas und verzog das Gesicht.
„Doch, natürlich!“, mischte ich mich ein. „Es ist sogar ein Hauptwort.“
Lucas warf mir einen Blick zu. „Wolltest du nicht lesen?“
Ich lachte. „Tut mir leid! Aber was recht ist, muss recht bleiben. Wie viele Punkte sind das?“
Malcolm blickte auf seinen Zettel, hob dann den Kopf und grinste. „Ich habe gew-wonnen.“
Lucas ließ seine restlichen Buchstaben von der Hand auf das Brett fallen und blickte mich an. „Danke, Jo!“, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. „Wirklich nett von dir!“
„Ach, komm schon!“, meinte ich lachend und zeigte auf die Buchstaben, die er fallen gelassen hatte. „Sieh mal! Du setzt viel zu kurze Worte!“ Ich nahm das L und das E von curricle weg und legte stattdessen seine restlichen Buchstaben an. „ Curriculum – dreifacher Wortwert!“ Ich grinste ihn an. „Ich scrabble besser, als ich puzzeln kann, das kannst du mir glauben.“ Dann hielt ich inne. „Darf ich mal?“, fragte ich, zog das Brettspiel etwas dichter und begann die Buchstaben zurechtzulegen.
„Was wird das?“
„Ich will etwas ausprobieren.“
„D-das ist das vom B-Bogen“, sagte Malcolm einen Moment später und beugte sich über den Tisch.
„Genau.“ Ich nickte. „ Mutus Permaneo , und jetzt wartet.“ Ich verteilte die Steine wieder und arrangierte sie neu.
„Kennst du Sneakers, Jo?“, fragte Lucas.
„Ja. Toller Film mit Robert Redford.“ Ich nahm die Hände vom Brett und lächelte. „Mousetrap Menu . “
Malcolm grinste breit, und Lucas lachte laut auf. „Mäusefallenmenü? Ich bitte dich! Wer soll das essen?“
„Na gut. Dann eben was anderes. Helft mir mal! In Englisch ist es für mich nicht so leicht.“
Gemeinsam tauschten wir so lange die Buchstaben aus, bis das Wort treason auf dem Spiel lag – Verrat. Aus den restlichen Buchstaben war nichts Brauchbares zu legen,
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