Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
gestochen zusammen, riss mich los und versteifte mich. „Nein! Ich bewege mich hier kein Stück weg! Ich will, dass du die Tür öffnest! Sofort!“
„Jo! Mach die Augen auf!“
„Nein!“
„Jo!“
„Nein!“ Ich schüttelte verbissen den Kopf, kämpfte gegen das Entsetzen an und war mir todsicher, dass ich den Kampf verlieren würde. Vor lauter Hysterie und Panik würde ich hier in diesem Rattenloch sterben, nie wieder die Sonne sehen, von Ratten aufgefressen werden … Ich wollte sterben.
Auf einmal drückte Ryan mich gegen die Wand. Ich schrie und schlug panisch um mich, doch dann fühlte ich seine Lippen auf meinen. Warm und weich und vollkommen. Meine Gegenwehr verpuffte. Ich schlang die Arme um ihn wie eine Ertrinkende.
„Siehst du? Nun sind die Augen auf“, sagte er leise, als er sich von mir löste. „Alles ist gut, Jo.“
Ich starrte ihn verblüfft an. „Du bist total verrückt!“
„Manchmal.“ Er lächelte mich an. „Geht’s wieder?“
Ich atmete ein paarmal tief durch, nahm den Geruch des heißen Kerzenwachses wahr, den Staub in der Luft, ein wenig von Ryans Schweiß und nickte. „Ja, ich glaube schon. Danke …“
„Keine Ursache“, sagte er grinsend. „Komm! Wir finden schon einen Weg hinaus. Versprochen, okay?“
Ich holte noch einmal Luft und nahm die Hand, die er mir reichte. „Okay!“
Ich dachte schon, die Stufen, die teilweise schmal und gefährlich brüchig waren, würden nie enden, als Ryan mich plötzlich in einen weiteren Raum zog.
„Flipp nicht aus, Jo! Hier liegt ein Gerippe.“
„Was?“
Ryan ließ meine Hand los. „Die Frage sollte eher lauten: Wer? “, meinte er gelassen und hockte sich neben die sterblichen Überreste eines längst verschiedenen Menschen.
„Großer Gott! Wir müssen die Polizei rufen. Fass es nicht an!“
„Ich fasse es doch gar nicht an“, sagte Ryan und schob mit dem Ellbogen den kaputten Koboldhocker beiseite, der neben der Leiche lag.
„Ihr wurde der Schädel eingeschlagen.“
„Ihr?“
„Aye, den Resten der Kleidung nach war sie eine Frau.“
Ich wagte einen Blick auf die Leiche und schauderte.
„Die Dienerin des Magiers“, murmelte ich, weil mir die Geschichte einfiel, die Lady Ellen erzählt hatte.
„Wie bitte?“ Ryan hob überrascht den Kopf.
„Die Dienerin des Magiers. Deine Großmutter hat mir die Geschichte von Annella’bán erzählt, und darin heißt es, dass die Dienerin des Magiers in den Kerkern von Caitlin Castle ihren Tod fand. Sie nahm sich das Leben, als die weiße Annie sich in den Seehund verwandelte.“
„Du warst bei meiner Großmutter?“
Zu spät erkannte ich, dass ich ihm diese Kleinigkeit bislang noch verschwiegen hatte. „Ja, Marlin und ich, wir waren neulich bei ihr, zum Abendessen. Tut mir leid, Ryan! Ich hätte es dir schon viel früher gesagt, aber …“
„Aye, schon gut. War das bei eurem Date?“
Obwohl er versuchte, gelassen zu bleiben, merkte man seinem Tonfall durchaus an, dass es ihm immer noch unter die Haut ging.
„Ja“, sagte ich leise und erwiderte seinen Blick.
„In Ordnung.“ Er nickte ausdruckslos und stand auf. „Da hinten geht es weiter. Komm!“
„Warte mal!“, sagte ich, machte einen großen Bogen um die Leiche und ging auf eine Wand zu. Irgendetwas an ihr kam mir merkwürdigerweise bekannt vor. War es die Größe? Die Form? „Ryan?“
„Ich sehe es“, erwiderte er und kam näher, strich mit der freien Hand an den Ecken entlang und betrachtete die Fugen zwischen den Steinquadern. „Diese Wand wurde nachträglich eingebaut.“
„Hör doch mal! Was ist das?“
Ryans Augen wurden vor Überraschung größer. „Das ist der Kompressor! Hinter dieser Wand ist die Krypta. Hallo? Lucas? Finn? Ist jemand da?“ Keine Antwort.
„Die sind alle in der großen Halle“, murmelte er und trat einen Schritt zurück. „Komm, Jo! Lass uns gehen.“
Eine Weile lang unterhielten wir uns noch über den seltsamen Schrank, die Leiche und Samuel und Annie, dann wechselten wir nur noch hin und wieder ein paar Worte, und bald redete keiner von uns mehr. Ich setzte alles daran, nicht hysterisch zu werden, gleichmäßig zu atmen und dem zermürbenden Drang zu widerstehen, zurückzulaufen und mit den Fingernägeln die Wand zur Krypta einzureißen. Bei einer kurzen Rast erhaschte ich einen Blick in Ryans Gesicht, sah die tiefen Sorgenfalten und fragte mich, ob jemand jemals unsere zerfledderten Leichen finden würde. Die Kerzen würden bald ausgehen, und dieser Gang
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